Dirigentin Karina Canellakis, klanglicher und emotionaler Reichtum bei Brahms.
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"In memoriam Alexej Nawalny": Durch Christian Tetzlaffs Widmung seiner Bach-Zugabe wurde das zuvor gehörte erste Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch schlagartig mit dem Hier und Jetzt verbunden.

Der russische Komponist vollendete das düstere, anklagende Werk 1948, uraufgeführt wurde es vorsichtshalber erst 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod. Der Diktator hatte Leben und Schaffen Schostakowitschs nachhaltig umschattet, so wie auch heute ein Nachfolger Stalins Land, Leute und Nachbarstaaten terrorisiert. Zuvor hatte der deutsche Geiger dessen viersätziges Werk beim Konzert des London Philharmonic auf furiose, schonungslose Weise interpretiert.

Ob bei den Klagen im Notturno, beim grotesken Humor im Scherzo, bei der erzwungenen Heiterkeit in der finalen Burlesque: Tetzlaff ackerte sich mit grimmiger Expressivität durch dieses Zeugnis des wütenden Widerstands. Das Publikum im Großen Musikvereinssaal reagierte mit hell aufflammender Begeisterung.

Ausnahmeleistungen

Es ist schon ein Kunststück, wenn es gelingt, nach einer solchen Ausnahmeleistung noch eins draufzusetzen. Karina Canellakis (siehe Bild) glückte dies mit einer Interpretation der Vierten von Brahms, die an klanglichem und emotionalem Reichtum kaum Grenzen kannte.

Die in New York geborene Erste Gastdirigentin des Orchesters gab dem herben Kopfsatz eine fluide Prägung, Modell Moldau. Danach wurde es immer schöner. Im H-Dur-Thema der Celli im Andante moderato wohnte alles Glück dieser Welt. Kraftvoll der dritte Satz, glühend das Finale. Schon anfangs hatte Mussorgskijs traumhaftes Chowanschtschina-Vorspiel die albtraumhaft monotonen Bilder der Inszenierung von Lev Dodin (Staatsoper, 2014) vergessen lassen.

Beglückend zu beobachten, mit welcher Anteilnahme die Musikerinnen und Musiker des London Philharmonic agierten. Canellakis muss neben ihren interpretatorischen Fähigkeiten auch eine exzellente Motivatorin sein. Der Musikverein widmet der 42-Jährigen in dieser Saison einen "Fokus". In dessen Rahmen wird sie Mitte Mai mit dem Niederländischen Radiophilharmonieorchester gastieren, und auch mit den Wiener Symphonikern gibt die ausgebildete Geigerin danach zwei Konzerte, mit der Pianistin Beatrice Rana als Solistin. (sten, 29.2.2024)