Heide Fuhljahn mit Yogalehrerin im Park bei Yogapose
Heide Fuhljahn will sich durch ihr Gewicht nicht einschränken lassen. Um die eigene Angst zu überwinden, hat sie 14 Mutproben gemacht – und dabei viel innere Freiheit gefunden.
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Heide Fuhljahn wiegt viele Kilos. Und sie liebt nicht jedes davon, trotz Body-Positivity. Ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Figur hat dabei eine lange Geschichte, ihr wurde schon gesagt, sie sei zu dick, als sie noch Größe 38 trug. Übergewicht wird dabei oft mit Faulheit oder weniger Leistung assoziiert, auch Fuhljahn selbst ist in diese Falle getappt.

Das hat sie in ihrer Lebensqualität so eingeschränkt, dass sie beschloss, über ihren eigenen Schatten zu springen. Insgesamt 14 Mutproben hat die Journalistin gemacht, von Pilates über Bauchtanz bis zum Nacktbaden, in denen sie sich weit aus ihrer Komfortzone hinaus begeben hat. All das hat sie nun in ihrem Buch "Allein unter Dünnen" beschrieben. Im STANDARD-Interview spricht sie über gesellschaftliche Normen, warum die Mutproben ein Befreiungsschlag für sie waren und was Übergewicht mit der Ambiguität des Erwachsenenlebens zu tun hat.

STANDARD: Sie legen in Ihrem Buch einen ziemlichen Seelenstriptease hin. Was hat Sie dazu bewegt?

Fuhljahn: Genau diese Feststellung, dass ich allein unter Dünnen bin. Egal ob in der Kantine, auf einer Geburtstagsparty, beim Sport, ich bin immer die einzige mit deutlichem Übergewicht. Adipositas ist ja ein gesellschaftlich relevantes Thema, es betrifft viele. Trotzdem sind in meinem Umfeld einfach alle schlank, oder es sind Menschen mit vielleicht fünf oder zehn Kilo mehr, also nicht nennenswert übergewichtig. Dieses Alleinsein ist eine unangenehme Erfahrung. Irgendwann habe ich mich gefragt, warum das so ist, und angefangen zu recherchieren.

Heide Fuhljahn beim Boxen
Beim Kampfsport hat Heide Fuhljahn einen Vorteil entdeckt: "Eine Frau, die 50 Kilo wiegt, werfen Männer schnell zu Boden. Mir passiert das nicht."
Sonja Tobias

STANDARD: Und was hat sich da gezeigt?

Fuhljahn: Ich stehe exemplarisch für das gesellschaftliche Thema Adipositas. Mein Übergewicht ist entstanden, weil ich mit Anfang 30 psychisch sehr krank geworden bin. Ich leide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, gepaart mit einer Essstörung, der Binge-Eating-Störung. Vor zehn Jahren litt ich auch an schweren Depressionen, darüber habe ich in meinem Buch "Kalt erwischt" geschrieben. Diese komplexe Mehrfacherkrankung hat dazu geführt, dass ich sozial und finanziell aus meiner gesellschaftlichen Schicht herausgefallen bin. Während ich sieben Jahre lang überwiegend in Kliniken behandelt wurde, haben meine Freunde Karriere gemacht, Geld verdient und Familien gegründet.

Durch meine Krankheiten habe ich 50 Kilo zugenommen. Dann bin ich in die Falle getappt zu glauben, wenn ich mich super diszipliniere, Diät halte und oft Sport mache, bekomme ich mein Gewicht wieder in den Griff. Aber ich bin an diesem Vorhaben ständig gescheitert. Dieses Scheitern empfand ich lange Zeit als ein persönliches Versagen. Das war extrem frustrierend. In der Recherche zu den Fakten von Mehrgewicht und Adipositas hatte ich dann aber einige Aha-Erlebnisse.

STANDARD: Was war so ein Aha-Erlebnis?

Fuhljahn: Dass Übergewicht eine Krankheit ist, die man nicht einfach mit Disziplin in den Griff bekommt. Ich war Ende 40, hatte etliche Diäten ausprobiert und mehrmals die Woche Sport gemacht, bis ich verstanden habe, so wird es sich nicht ändern. Dieses Wissen über die Ursachen, Genetik, seelische Krankheiten, ein geringer sozialer und finanzieller Stand, völlig überzuckerte Lebensmittel, ist aber bei ganz vielen Menschen in der Gesellschaft bisher nicht angekommen, weder bei den Betroffenen noch bei den Betrachtern. Man gibt automatisch den Übergewichtigen die Schuld an ihrer Situation, ohne die Hintergründe zu berücksichtigen.

STANDARD: Sie haben insgesamt 14 "Mutproben" gemacht, also sich bewusst in Situationen begeben, in denen sie sich wirklich unwohl gefühlt haben. Das ist ziemlich beeindruckend.

Fuhljahn: Danke! Aus meiner Sicht ist es tatsächlich leichter, in eine Diskussionsrunde zu gehen und dort klug daherzureden. Oder auf Instagram Posts zu Body-Positivity zu liken. Das ist gut, aber immer noch sehr innerhalb der eigenen Komfortzone. Ich habe die 14 Mutproben absolviert, weil ich so viel Freiheit und Genuss wie möglich haben möchte. Durch meine Krankheiten musste ich unfreiwillig auf Karriere, Partnerschaft und finanzielle Sorglosigkeit verzichten. Auch heute muss ich mit deutlichen Einschränkungen leben, da will ich nicht zusätzlich durch mein Mehrgewicht eingeschränkt sein. Ich möchte am Strand liegen, den Sport machen, auf den ich Lust habe, kochen und essen, was mir schmeckt.

Heide Fuhljahn beim Bauchtanz
Beim Bauchtanz sollen auch üppigere Frauen sein, doch Heide Fuhljahn war die einzige. Sie will sich aber nicht einschränken lassen.
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STANDARD: Haben Sie alles durchgezogen, was Sie sich vorgenommen haben?

Fuhljahn: Fast alles. Manches habe ich mich doch nicht getraut. Es gibt auf Instagram eine große Body-Positivity-Szene, viele zeigen sich im Bikini oder in Unterwäsche. Ich bewundere sie dafür. Aber wenn ich die Hassnachrichten lese, die bei diesen Frauen in den Kommentaren stehen, weiß ich, dass ich dafür emotional zu angreifbar bin. Meiner Seele fehlt sprichwörtlich ein dickes Fell.

STANDARD: Und trotzdem bringen Sie so viel Mut auf ...

Fuhljahn: Ja. Vor Jahren sagte mir ein Therapeut einmal, dass ich sehr mutig bin. Ich habe wütend erwidert, dass das nicht richtig sei, er müsste doch wissen, dass ich ein äußerst ängstlicher Mensch bin. Er erklärte mir dann, dass Mut nicht die Abwesenheit von Angst ist. Der Mut besteht darin, dass man etwas trotz der Angst tut, und wenn es kleine Schritte sind. Das hat mir sehr geholfen.

Mir ist soziale Gerechtigkeit wichtig. Wenn ich höre, dass Menschen wie ich im Freibad nicht erwünscht sind, dass man auch mich dort nicht sehen will, finde ich das ungerecht, auch das macht mich wütend. Diese Wut hilft mir, die Mutproben durchzuziehen. Ich weiß nicht, wie hoch mein Puls war, als ich am FKK-Strand war oder beim Bauchtanz. Aber ich habe es trotzdem gemacht, weil ich den Genuss und die Freiheit suche. Das treibt mich an.

STANDARD: Da gibt es ja auch gesellschaftlich ganz viele Bewertungen.

Fuhljahn: Ja, und vor allem Frauen werden bewertet. Das macht sie aber schwach, sie ziehen sich dann oft ins Private zurück. Das spielt wieder dem Patriarchat in die Hände. Meiner Ansicht nach würde es Frauen guttun, wenn sie weniger Angst hätten, weniger Scham, und dafür mehr Energie, für sich zu kämpfen.

Heide Fuhljahn 2004 beim Halbmarathon
2004 lief Heide Fuhljahn einen Halbmarathon. Schon damals wurde ihr ständig gesagt, sie sei zu dick. So geht es auch vielen anderen Frauen, sagt sie.
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Ich bin auch dafür ein gutes Beispiel. Mein Vater hat mir immer gesagt, dass ich zu dick bin, selbst als ich 55 Kilo wog. Im Rückblick war ich mein ganzes Leben lang überzeugt, dass ich zu dick bin. Und so geht es enorm vielen Mädchen und Frauen. Deshalb habe ich für mein Buch den Psychoanalytiker Michael Dümpelmann interviewt. Er sagte mir, dass man das Urteil "zu dick" übersetzen müsse. Es geht nicht darum, dass frau zu viel Gewicht hat, sondern dass sie zu viel ist. Frauen sollen wenig Raum einnehmen. Man will sie klein halten, denn manche Männer hätten Angst vor der starken, selbstständigen, sexuell aktiven Frau. Man liest das natürlich, vor allem in der feministischen Literatur. Aber ich fand es erlösend, dass mir das ein älterer, weißer, heterosexueller Experte bestätigt hat.

STANDARD: Was ist das Wichtigste, was Sie bei Ihren Mutproben gelernt haben?

Fuhljahn: Was mir gut tut und was nicht. Pilates ist zum Beispiel nichts für mich. Man braucht dafür Beweglichkeit und Gelenkigkeit, die habe ich nicht. Und warum soll ich mich mit einer Sportart quälen, bei der ich nicht gut vorankommen werde? Jetzt gehe ich zum Kampfsport und zum Aqua-Gym. Im Sommer reizt mich das Nacktbaden, es ist ein großartiges Körpergefühl. Das muss ich nicht überall machen, aber auf abgelegenen FKK-Stränden genieße ich es. Einige Erlebnisse waren wirklich unangenehm, aber sie haben mir den Weg geebnet dorthin, wo ich mich wohlfühle.

Und eine weitere Erfahrung habe ich gemacht. Es gibt auch Sportarten, in denen ich gegenüber dünnen Frauen im Vorteil bin, wie beim Kampfsport. Eine Frau, die 50 Kilo wiegt, werfen Männer schnell zu Boden. Mir passiert das nicht.

STANDARD: Trotz all der Mutproben und dem positiven Zugang hat man aber den deutlichen Eindruck, dass Sie sich nicht immer unbedingt wohl fühlen in ihrem Körper.

Fuhljahn: Das stimmt, aber ich finde diese Ambiguität ist typisch für das Erwachsenenleben. Es ist nicht nur gut oder schlecht, da gibt es reichlich Grautöne. Ich weiß, wie man sich gesund ernährt und vernünftig lebt. Aber das reicht eben offensichtlich nicht, um etwas ändern zu können. Genau so wenig wie Menschen, die übermäßig viel Alkohol trinken oder stark rauchen, das nicht einfach ändern können. Obwohl sie wissen, dass das nicht gesund ist, sie sind ja nicht doof.

Bei Mehrgewichtigen ist es leicht, mit dem Finger auf sie zu zeigen, weil man die Extrakilos sofort sieht. Das gilt auch für Menschen mit Behinderungen oder mit nichtweißer Hautfarbe. Dadurch wird man schneller angreifbar. Aber das bedeutet nicht, dass Dünne automatisch glücklich oder gesund sind. Meiner Meinung nach ist es wichtig, Zwiespälte ehrlich zu benennen, denn sie spiegeln die Realität wider. Ich kann mich nicht komplett frei machen von den sozialen Normen meiner Gesellschaft, aber ich kann mich etwas unabhängiger machen. (Pia Kruckenhauser, 5.3.2024)

Video: Fatshaming: Gesund muss nicht unbedingt dünn bedeuten.
DER STANDARD