Polizistin
Drei Frauen sind am Freitagabend, 23. Februar, in einem Bordell in Wien-Brigittenau tot aufgefunden worden. Es gab einen Großeinsatz der Polizei.
APA/GEORG HOCHMUTH

Mitten in dem kleinen Park wurde eine Schallschutzmauer hochgezogen, die zu hoch und zu glatt ist, um darüberzuklettern. Dahinter liegt die Abfahrt von der Brigittenauer Brücke auf den Handelskai, davor eine Böschung, auf der sich ein Obdachloser einen Schlafplatz eingerichtet hat. Dort kauert ein junger Mann, 27, Afghane, Asylwerber. In der Hand hält er ein blutiges Messer.

Es ist Freitag, 23. Februar, später Abend. Unten laufen mehrere Polizisten auf und ab. Mit ihren Taschenlampen leuchten sie über die Böschung. Im Gestrüpp liegen Bierdosen, leere Tetrapacks, aus denen "Vino Bianco" getrunken wurde, eine alte Mikrowelle. "Messer weg, du Oasch", brüllt jemand durch die Nacht. Das ist auf dem Video eines Passanten zu hören.

Der junge Mann wird festgenommen, die Tatwaffe sichergestellt. Er wird später gestehen.

Gegenüber dem Park steht ein schlichtes, lindgrünes Wohnhaus. Links neben Eingang und Müllraum sind im Erdgeschoß große Milchglasscheiben angebracht. Eine davon ist eine Tür. "126A Studio" steht in Goldbuchstaben auf dem Glas. Dahinter könnte sich auch ein Fahrradraum oder ein Hobbykeller verbergen, die Räumlichkeiten gehören aber nicht zum Bereich der Hausbewohner. 126A ist ein kleines Bordell mit Sauna, zwei steril gefliesten Bädern, ein paar schmucklosen Zimmern mit Bett. Am Freitagabend findet die Polizei dort drei tote Frauen, niedergestochen, offenbar Prostituierte, die vermutlich aus China nach Österreich kamen.

Warum mussten sie sterben? Und warum wurde Ebadullah A. mutmaßlich zum Mörder? Was trieb ihn an? War es Frauenhass? Gab es ein religiöses Motiv? Warum dort?

Die Engerthstraße zieht sich vom Prater bis zur Millennium City durch zwei Wiener Bezirke und wird dabei von Block zu Block glanzloser. Neben dem Asia-Studio 126A ist eine Kindergruppe untergebracht, gegenüber ein Diskonter mit großem Parkplatz. Die Straße ist belebt, die Häuser sind etwas heruntergekommen, aber es ist kein verruchtes Rotlichtviertel im Stil des Wiener Gürtels. Wieso hat es Ebadullah A. überhaupt dorthin verschlagen?

Unter Beobachtung

Ein Ermittler vermutet, es könnte sich um einen tragischen Zufall handeln. Ebadullah A. lebt seit zwei Jahren in Österreich. Im Jahr 2022 hatte er in Kärnten einen Asylantrag gestellt. Bis Ende Jänner lebte er in einer Unterkunft in Frantschach im Bezirk Wolfsberg. Nach Wien soll er bereits mehrere Tage vor der Tat gekommen sein. In der Hauptstadt habe er bei Bekannten übernachtet, wie DER STANDARD aus Sicherheitskreisen erfuhr. Das Studio in der Engerthstraße sei ihm im Vorbeigehen aufgefallen, wird vermutet. Und das Bordell soll ihn "getriggert" haben, so ähnlich habe er es selbst formuliert.

Der Afghane dürfte mehrfach zu dem Studio in der Engerthstraße gekommen sein – um zu beobachten, was dort vor sich geht. Ein Kunde sei er wohl nicht gewesen, heißt es aus Ermittlerkreisen. Dann habe sich Ebadullah A. drei Küchenmesser besorgt – angeblich in einem Supermarkt.

Am Tag der Tat soll der junge Mann noch eine Moschee besucht haben, ehe er gegen 21 Uhr das Asia-Studio betrat. Das Messer trug er bei sich – mutmaßlich schon mit der Absicht, den asiatischen Sexarbeiterinnen etwas anzutun. Während der Tat soll er so brutal vorgegangen sein, dass die Identitäten der Opfer – darunter vermutlich die Betreiberin des Studios – bis zuletzt nicht geklärt werden konnten.

232 Euro im Monat

War er ein "Sittenwächter", wie der Boulevard schon schreibt? Zumindest um einen radikalen Islamisten dürfte es sich bei Ebadullah A. nicht handeln. Dem Staatsschutz ist er nicht als einschlägig bekannt. Ebenso wenig sein Wiener Umfeld. Dem stimmt der Anwalt des Afghanen, Philipp Springer, zu. Sein Mandant glaube an Magie und Zauberei und etwa auch, "dass sein Messer durch Zauberhand geführt wurde". Ebadullah A. lebe in einer "Zauberwelt mit religiösen Versatzstücken". In A.s "Wahnwelt" spiele Allah zwar eine Rolle, streng gläubig oder gar radikalisiert sei er nicht.

Ein Jahr lang lebte Ebadullah A. in der Kärntner Gemeinde Frantschach, einem 2700-Einwohner-Ort im Lavanttal, unweit der Grenze zu Slowenien. Als Asylwerber war er in einem sogenannten Selbstversorgerquartier untergebracht, wo Flüchtlingen eine Wohnmöglichkeit sowie Geld für Lebensmittel zur Verfügung gestellt werden.

Konkret sind das 180 Euro pro Monat. Hinzu kommen 40 Euro Taschengeld sowie Bekleidungsgeld in der Höhe von zwölf Euro: insgesamt 232 Euro im Monat zum Leben.

Tatort
Der mutmaßliche Täter wurde von der Polizei im Park gegenüber auf einer künstlichen Anhöhe gefunden und gestellt.
mika/Standard

Unauffällig in der Asylunterkunft

"Gut geführt" sei die Frantschacher Asylwerberunterkunft, sagt Elisabeth Steiner, die im Bärenwirt im Gurktaler Weitensfeld in Kärnten ein Vollversorgerquartier betreibt. Davor war sie viele Jahre lang Kärnten-Korrespondentin des STANDARD. Im Unterschied zu Frantschach, wo die Flüchtlinge selbstständig in kleinen Apartments leben, bekommen die 25 im Bärenwirt untergebrachten Menschen dreimal täglich eine Mahlzeit serviert und Unterstützung im Alltag.

Während seines Kärnten-Aufenthalts sei Ebadullah A. "unauffällig" gewesen, sagt Barbara Roschitz, Flüchtlingskoordinatorin des Landes. "Weder gab es Hinweise auf ein besonderes Aggressionspotenzial noch auf eine psychische Erkrankung", sagt sie. Was wie eine Standardantwort klingt, wird von einem ehemaligen Mitbewohner des mutmaßlichen Täters, ebenfalls ein Afghane, unterstrichen. Er habe keine spezifischen Erinnerungen an seinen Kollegen, erzählt auch er.

Ebadullah A. hatte gerade Ende Jänner erklärt, dass er sich zur Rückkehr in seine Heimat entschlossen habe. Er hatte auch bereits ein Rückkehrgespräch mit Zuständigen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl geführt.

Überraschend abgetaucht

Doch dann tauchte er überraschend ab. Rund zehn Tage vor dem Verbrechen in dem Studio in der Engerthstraße verließ er Frantschach und fuhr in die Bundeshauptstadt. Was ihn dazu trieb, kann nur vermutet werden.

Die Flüchtlingsgasthofbetreiberin Steiner erzählt, dass viele Asylwerber in einen massiven inneren Konflikt geraten, wenn sie hier sind. Die in Österreich von vielen Menschen – natürlich auch Frauen – gelebte sexuelle Freiheit stehe in starkem Kontrast zu den davor erlernten Rollenbildern und Werten der jungen Männer. Immer öfter sei sie mit afghanischen und syrischen Asylwerbern konfrontiert, die eine "rigide Sicht" auf bestimmte Themen hätten, sagt Steiner. Meist seien das Menschen, denen wenig Bildung zuteil wurde: "Je mehr Vorwissen jemand mitbringt, desto einfacher kann er oder sie sich öffnen."

Kontakte der Männer zu hiesigen Frauen, oft auch Prostituierten, seien von Missverständnissen geprägt: "Unehelicher Sex ist für viele Flüchtlinge eine der schlimmsten Sünden, gleichzeitig lassen sie sich selbst darauf ein. Aber sie empfinden diese Frauen als schlecht und verdorben."

Fehlende Integrationskurse

Werde all das nicht mit den Betroffenen thematisiert, könne diese Gespaltenheit zu "inneren Explosionen" führen, sagt die Bärenwirt-Betreiberin. Auch zu Gewalt. Nach zehn Jahren in der Flüchtlingshilfe lautet ihre Schlussfolgerung: "Solange es innerhalb des Islam nicht zu einer Bewegung in Richtung freierer Auslegungen kommt, müssen wir achtsam sein. Und wir müssen viel mehr als derzeit tun, um diesen Menschen unsere Sitten und Werte näherzubringen." Dafür brauche es Integrationskurse ab dem ersten Tag, sagt Steiner.

Einige Tage nach der Tat ist in der Wiener Engerthstraße wieder Normalbetrieb: Kinder mit Schultaschen laufen zum Spielplatz, eine ältere Frau führt ihren Hund spazieren. Vor dem Studio 126A stehen dutzende Grabkerzen; Tulpen, Märzenbecher und Nelken liegen auf dem Gehsteig. Jemand hat mit Kreide auf die Straße geschrieben: "Rest in Power."

Asia-Studio 126A

Das Asia-Studio 126A ist eines von dutzenden ähnlichen Lokalen in Wien, die oft nur nach der Hausnummer der Straße benannt sind, in der sie sich befinden. In der Engerthstraße hatten vier Frauen Sexarbeit angeboten – drei von ihnen wurden getötet, die vierte war vor Ort, aber konnte sich in einem Zimmer verschanzen.

"Die besten Asia Girls in Wien", war auf der Website des Studios zu lesen, bevor sie nach der Tat "vorübergehend gesperrt" wurde. "Quicky / Euro 40", "30 Minuten prickelnde Erotik (Euro 90)". Die Frauen nannten sich "Xixi", "Jimmy", "Emi" und "Bella".

Was sich vor dem Verbrechen hinter der schmucklosen Glasfassade abspielte, wissen Renate Blum und Maria Celeste Tortosa von LEFÖ, einer NGO in Wien. LEFÖ bietet Beratung, Bildung und Begleitung für Migrantinnen an – auch für Migrantinnen, die in der Sexarbeit tätig sind.

Studio mehrfach kontrolliert

Von Plänen, Sexarbeit durch Bestrafung der Freier zu bannen, hält man bei LEFÖ nichts. Drei Streetworkerinnen in Teilzeit besuchen Studios und Laufhäuser vielmehr, um die dort arbeitenden Frauen zu informieren, Unterstützung anzubieten und im Austausch zu bleiben – jedes Wiener Lokal suchen sie im Durchschnitt einmal pro Jahr auf. Auch im Studio 126A in der Engerthstraße waren sie mehrfach.

Nach den LEFÖ vorliegenden Informationen sind die vier Frauen dort ihrer Arbeit legal nachgegangen, sagt Blum. Die Polizei habe das auch in den vergangenen zwei Jahren mehrfach kontrolliert.

Wie aber kamen die Asiatinnen als Sexarbeiterinnen nach Wien? "Das ist, wie in jeder Migrationsbiografie, unterschiedlich. Auch die Art der Aufenthaltstitel der Frauen ist verschieden. Personen, die Sexarbeit nachgehen, müssen sich für diese Tätigkeit anmelden und haben somit Rechte und Verpflichtungen", sagt Tortosa. Die Frauen müssten im Vorfeld nicht unter Druck geraten sein.

Menschenhandel

Eine ORF-Dokumentation aus dem Jahr 2019 zeigt die dunkle Seite des Geschäfts. In Am Schauplatz: Die Chinesen und das Rotlicht wurde organisierte Kriminalität beleuchtet. Chinesinnen würden im Auftrag einer mächtigen China-Mafia in Gruppen "über Peking nach Wien gebracht", wird dort beschrieben. Polizei und Stadt hätten die Kontrolle über das Geschehen verloren, beschwert sich die Wiener Ex-Rotlichtgröße Alfred Kreuzer.

Was in der Dokumentation geschildert werde, sei Menschenhandel, sagt LEFÖ-Co-Leiterin Tortosa. Diesen gelte es polizeilich zu bekämpfen – Sexarbeit hingegen nicht. Diese müsse vielmehr "entstigmatisiert" werden, nicht zuletzt, um die Sicherheit der Sexarbeiterinnen zu verbessern.

Im Zuge der Polizeikontrollen wurden im Studio 126A auch die laut Wiener Prostitutionsgesetz vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen überprüft: Alarmknöpfe und Notausgänge sollen "einer Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Menschen sowie dem Entstehen von Bränden vorbeugen und dem Schutz der Prostituierten dienen".

Keine Alarmierungsversuche

Während des Verbrechens fanden offenbar keine Alarmierungsversuche statt. Die Bluttat wurde erst von einem Passanten entdeckt. Gab es im Asia-Studio entsprechende Vorkehrungen? Genau wissen es die Frauen von LEFÖ nicht.

Gegenüber dem Studio steht am Mittwoch nach der Tat eine Chinesin und fotografiert die Kerzen und Blumen auf dem Gehsteig. Sie kenne eine der Damen flüchtig, erzählt sie. Sie könne sich das alles nicht erklären. "Diese Ausländer", sagt sie und schüttelt den Kopf.

Gewalt an Frauen ist kein "importiertes Problem", wie gerne geschimpft wird, wenn, wie in diesem Fall, ein afghanischer Asylwerber der mutmaßliche Täter ist. Aber es gibt in gewissen Bevölkerungsgruppen statistische Auffälligkeiten. So auch in jener von Ebadullah A.

Blumen vor Tatort
Der Eingang zum Tatort wurde an den Tagen nach dem Verbrechen zur Gedenkstätte.
mika/ Standard

Vor allem junge Männer

Ein Blick in die Kriminalstatistik zeigt eine deutliche Überrepräsentation von Afghanen, etwa bei der Deliktgruppe der Vergewaltigung. Von 943 Tatverdächtigen waren rund vier Prozent Afghanen, das zeigt der vorerst letzte Sicherheitsbericht des Innenministeriums aus dem Jahr 2021. Zwei Prozent der Morde waren in diesem Jahr auf Afghanen zurückzuführen – auch hier ist die Gruppe im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überrepräsentiert.

Die afghanische Community ist seit dem Höhepunkt der Fluchtkrise im Jahr 2015 kontinuierlich angewachsen. Derzeit leben rund 47.000 Afghaninnen und Afghanen in Österreich. Die Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdreifacht. Heute machen Afghanen etwa 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Österreichs aus, die meisten von ihnen leben in Wien.

Für die Beurteilung der Kriminalitätsstatistik ist relevant: Das Geschlechterverhältnis unter Afghaninnen und Afghanen ist unausgewogen. Es sind deutlich mehr afghanische Männer als Frauen im Land. Die Community ist zudem sehr jung. Fast ein Viertel ist laut Aufzeichnungen der Statistik Austria unter 15 Jahre jung, weitere 45 Prozent sind höchstens 29 Jahre alt. Das ist deshalb wichtig zu wissen, weil junge Männer eher Verbrechen begehen als etwa ältere Frauen. Hinzu kommt: Die Anzeigebereitschaft der Opfer ist von der ethnischen Zugehörigkeit des Täters beeinflusst, das zeigen Studien: Je fremder der Täter ist, umso eher wird angezeigt.

Bedingte Aussagekraft

Insgesamt nahm die Zahl der afghanischen Tatverdächtigen in den vergangenen Jahren zumindest etwas ab. Der Höhepunkt war im Jahr 2017 mit rund 7700 Verdächtigen erreicht. Vier Jahre später sank der Wert deutlich, dann stieg er wieder an. Ganz aktuelle Daten gibt es nicht.

Für den konkreten Fall hat die Statistik allein aber natürlich nur bedingte Aussagekraft. Überhaupt sind derzeit noch viele Fragen rund um das Verbrechen im Studio 126A offen. Es ist kein Motiv des Täters bekannt. Er selbst soll die Tat zwar in einer ersten Einvernahme gestanden haben, doch seither schweigt er. Ebadullah A. sitzt inzwischen in der Justizanstalt Josefstadt in U-Haft und verweigert die Kooperation. Laut seinem Verteidiger "sitzt er Boden, schaut ins Narrenkastl und tut bisher gegenüber allen so, als könne er nichts hören".

Abschiebung nicht möglich

Ebadullah A. wird jedenfalls psychiatrisch begutachtet werden. In Boulevardmedien war zu lesen, er soll Polizisten von "Stimmen" erzählt haben, die ihn zur Tat verleitet hätten. Ein Sachverständiger wird seine Zurechnungsfähigkeit klären müssen. Ganz grundsätzlich reicht die Strafdrohung auf Mord von zehn Jahren bis zu lebenslanger Haft.

Nach Afghanistan kann der Täter – wie er offenbar geplant hatte – jedenfalls nicht mehr zurückkehren. Es ist auch nicht möglich, ihn abzuschieben. Seit der neuerlichen Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 sind Abschiebungen aus Österreich dorthin gestoppt. Selbst freiwillig kann niemand nach Afghanistan zurückkehren – zumindest offiziell. (Irene Brickner, Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 2.3.2024)