Er steht auf der Fahndungsliste des Kreml – und zwar nicht nur metaphorisch. Im Dezember 2022 hat das russische Innenministerium den Investigativjournalisten Christo Grozev zur Fahndung ausgeschrieben. Zuvor hatte er bei der Plattform Bellingcat russische Agenten enttarnt und Geheimdienstoperationen enthüllt und etwa entscheidend zur Aufklärung des ersten Giftanschlags auf den Oppositionellen Alexej Nawalny beigetragen. Aus Sicherheitsgründen verließ der Bulgare letztes Jahr Wien, wo er zwei Jahrzehnte lang gelebt hatte. Gemeinsam mit dem STANDARD recherchierte Grozev für den "Spiegel" zuletzt die Causa des Ex-Wirecard-Managers Jan Marsalek.

Christo Grozev war Russland-Rechercheur für die Plattform Bellingcat, jetzt ist er beim "Spiegel" tätig.
APA/AFP/JULIEN DE ROSA

STANDARD: Als vor zwei Wochen Alexej Nawalny starb, waren Sie gerade mit dessen Frau auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Was ging Ihnen durch den Kopf?

Grozev: Es war nicht zu fassen – vor allem, weil wir damals intensiv über Alexejs Freilassung verhandelten. Am Tag vor seinem Tod schien ein Deal in Griffweite. Auch US-Journalist Evan Gershkovich sollte freikommen.

STANDARD: Welche Beteiligung hat das russische Regime an Nawalnys Tod?

Grozev: Es ist glasklar, dass Nawalny zumindest aufgrund der Haftbedingungen starb. Er war zunächst zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt worden, dann aufgrund des lächerlichen Vorwurfs, aus dem Gefängnis heraus eine extremistische Bewegung zu führen, zu noch einmal neunzehn Jahren. Das sorgte dafür, dass er in ein Straflager nach Sibirien musste, das als "Hospiz" des russischen Gefängnissystems bekannt ist – weil kaum jemand lebendig von dort zurückkommt. All das führte zu seinem Tod, völlig abseits der Frage, ob er etwa an Unterernährung starb oder ob jemand nachhalf.

STANDARD: Aber warum sollte der Kreml über einen Gefangenentausch verhandeln und Nawalny währenddessen ermorden?

Grozev: Sogar das könnte erklärt werden. Es ist für Putin sehr wichtig, als unberechenbar gesehen zu werden; als jemand, der keine roten Linien kennt. Sonst wären etwa nukleare Drohungen wie nun im Ukraine-Konflikt ohne Wirkung. Jemanden zu ermorden, der aus westlicher Perspektive ideal für einen Gefangenentausch ist, erfüllt diesen Zweck.

Video: Nawalny sollte angeblich gegen "Tiergartenmörder" ausgetauscht werden.
AFP

STANDARD: War jener Attentäter des russischen Geheimdienstes FSB, der in Deutschland in Haft sitzt, für Putin wirklich wichtig genug, um Nawalny freizulassen?

Grozev: Womöglich wollte Putin nur den Eindruck erwecken, Nawalny freilassen zu wollen, um Deutschland und die USA gemeinsam an den Verhandlungstisch zu bringen. Jetzt hat Berlin eine gewisse Bereitschaft gezeigt, den FSB-Attentäter abzuschieben, doch Nawalny ist tot. Für die USA ist es aber gerade im Jahr einer Präsidentschaftswahl enorm wichtig, die beiden in Russland inhaftierten US-Bürger nach Hause zu holen. Womöglich kann Washington nun Druck auf Berlin ausüben.

Der im Straflager verstorbene Kremlgegner Alexej Nawalny wurde vor wenigen Tagen beerdigt.
IMAGO/Andreas Stroh

STANDARD: In internen Unterlagen schrieb das österreichische Außenministerium nach dem ersten Mordversuch an Nawalny im Jahr 2020, man müsse einen kühlen Kopf bewahren und solle Wirtschaft und Politik nicht vermischen. Was sagen Sie dazu?

Grozev: Das ist eine typische "realpolitische" Reaktion österreichischer Politiker. Sogar Deutschland würde sich so etwas nicht erlauben. Es ist sehr enttäuschend, das zu hören.

STANDARD: Wie ist Österreichs Beziehung zu Russland innerhalb der EU einzuordnen?

Grozev: Österreich wird als Russlands trojanisches Pferd in Europa gesehen, sogar noch mehr als seine östlichen Nachbarländer. Es gibt den Versuch, das zu ändern und beispielsweise im Bereich des Verfassungsschutzes die Vergangenheit abzuschütteln. Aber es gibt in vielen Bereichen noch eine Minderheit an Russlandfreunden, die groß genug ist, um Einfluss auszuüben.

Österreich wird als trojanisches Pferd Russlands in Europa gesehen, sogar noch mehr als seine östlichen Nachbarländer.

STANDARD: Sie sind wohl selbst ins Visier von Ex-Verfassungsschützern geraten, die für Russland tätig waren. Wie hat sich das abgespielt?

Grozev: Ich war schockiert, dass ich nicht nur ausspioniert wurde, sondern dass das durch frühere BVT-Beamte passiert ist, die mich als "Feind ihrer Freunde" bezeichnet haben. Also nannten sie den russischen Geheimdienst FSB ihre Freunde! Sie fühlen keine Reue, wie das Gespräch meines "Spiegel"-Kollegen mit einem der Beteiligten zeigt.

STANDARD: Sie haben Wien auch deshalb verlassen. Fühlten Sie sich ausreichend unterstützt durch die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst?

Grozev: Sie haben sich sehr bemüht, aber bemerkt, dass sie noch nicht weit genug sind, um weitere Überläufer in ihren Reihen ausschließen zu können. Aber es war klar, dass die DSN weiter viel Energie da reinstecken will, Überläufer zu finden und auszuschließen. Ich muss festhalten, dass von der Spitze der DSN viel Goodwill und Verständnis kam.

STANDARD: Die Ermittlungen gegen Egisto Ott und Martin Weiss bieten großflächige Einblicke in die Aktivitäten von Jan Marsalek, die AG Fama des Bundeskriminalamts betreibt hier viel Aufwand. Aber es gibt politisch kaum Aufklärung in Österreich und schon gar nicht in Deutschland. Warum?

Grozev: Das ist eine sehr gute Frage, die ich auch deutschen Politikern oft stelle. Sie versichern mir alle, sie seien an Aufklärung interessiert. Doch es gibt keine Initiative, die Situation zu verbessern. Auch die deutschen Behörden hätten ihren österreichischen Kollegen weit mehr helfen können. Das kann daran liegen, dass Österreich nach der FPÖ-Regierungstätigkeit noch als unzuverlässig galt. Aber genauso gibt es in der deutschen Politik den Wunsch, die Marsalek-Affäre hinter sich zu lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es noch einige Dinge zu entdecken gibt, die Politiker schlecht aussehen lassen. (Fabian Schmid, 4.3.2024)