Die Gewalt in Haiti ist am Wochenende wieder eskaliert.
Die Gewalt in Haiti ist am Wochenende wieder eskaliert.
REUTERS/RALPH TEDY EROL

Es gab "Papa Doc" und "Baby Doc", François Duvalier und seinen Sohn Jean Claude, die Haiti nacheinander von 1957 bis 1986 diktatorisch regierten. Dann kam Jean-Bertrand Aristide, der einstige Priester aus bescheidenen Verhältnissen, der den Karibikstaat in eine bessere Zukunft führen wollte. Er trat eine Massenbewegung in der verarmten ruralen Bevölkerung los und wurde 1990 mit einem überragenden Ergebnis (67,5 Prozent) ins Präsidentenamt gewählt.

Doch anstatt das Erbe der Duvaliers zu beseitigen, trat Aristide in ihre Fußstapfen: Alleinherrschaft, Misswirtschaft und Korruption. Auf Gegner in der Bevölkerung ließ er seine Todesschwadronen los. Am Ende seiner Ära Anfang der 2000er kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, 2004 dankte Aristide schließlich ab und ging ins Exil nach Südafrika.

Gescheiterter Staat

All das ist das Fundament, auf dem das heutige Haiti steht, das aktuell mehr und mehr in Anarchie zu versinken droht. Das Land gilt als Failed State ohne eine halbwegs funktionierende staatliche Ordnung oder Infrastruktur. Neben dem politischen Dauerchaos tragen auch Naturkatastrophen wie das verheerende Erdbeben im Jahr 2010 mit über 300.000 Toten oder Hurrikan Matthew 2016 dazu bei.

Die Maschine von Ariel Henry ist am Dienstag gelandet. Wo er sich jetzt genau befindet, ist unklar.
Die Maschine von Ariel Henry ist am Dienstag gelandet. Wo er sich jetzt genau befindet, ist unklar.
REUTERS/Ricardo Arduengo

Auch gegen Jovenel Moïse, der 2017 Präsident wurde, gab es rasch gewalttätige Proteste. Der Hauptvorwurf, wie bei seinen Vorgängern auch schon: Eine kleine Elite bereichert sich am Land, während der Großteil der Bevölkerung in Armut lebt. Im Juli 2021 endete sein Leben: Maskierte Männer drangen in dessen Privatdomizil ein und erschossen ihn. Die Täter entkamen, bis heute ist der Mord nicht vollkommen aufgeklärt. Erst vor einigen Wochen kam es zu Anklagen mehrerer Personen, denen Mittäterschaft vorgeworfen wird. Darunter: Moïses Frau Martine, der damalige Premierminister und Polizeichef sowie der Chef von Moïses Leibwache.

Millionen Menschen geflüchtet

Dieses Attentat, wer auch immer dafür verantwortlich ist, hat dazu geführt, dass Haiti mit seinen knapp zwölf Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen – in den vergangenen 30 Jahren haben rund drei Millionen Menschen das Land verlassen – in ein noch größeres Chaos gerutscht ist.

Die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft, das Land nach dem Beben wieder aufzubauen und demokratische Verhältnisse zu etablieren, sind allesamt gescheitert. Stattdessen haben die ohnehin schon mächtigen Banden im Land ihren Einfluss nach dem Mord an Moïse noch weiter ausgebaut. Laut Uno kontrollieren sie mittlerweile 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince. Die von ihnen verursachten Gewalteskalationen sind mitverantwortlich, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung hungern muss.

Kurz vor seiner Ermordung hatte Moïse noch Ariel Henry zum nächsten Premierminister auserkoren. Doch die Amtsübergabe wurde durch den Tod des Präsidenten unterbrochen. Der noch amtierende Premier Claude Joseph und Henry rangen danach um die Macht; Letzterer behielt die Oberhand, seitdem regiert er als Interimspremier und nimmt auch die Amtsgeschäfte des Präsidenten wahr.

Übergang sabotiert

Demokratische Legitimität besitzt Ariel Henry keine, dafür wird er von den USA unterstützt. Neuwahlen hat er immer wieder mit dem Verweis abgelehnt, die prekäre Sicherheitslage lasse dies nicht zu. Schon kurz nach dem Tod von Jovenel Moïse hatten sich Parteien und zivilgesellschaftliche Akteure in Haiti auf das sogenannte Montana-Abkommen geeinigt. Dieses sieht die Bildung einer Übergangsregierung vor, allerdings sabotierte Henry die Umsetzung.

Zuletzt hieß es, Henry werde Anfang Februar aus dem Amt scheiden, doch auch daran hielt er sich nicht. Danach hatte er sich mit der Opposition darauf geeinigt, binnen zwölf Monaten Neuwahlen abhalten zu lassen und bis dahin gemeinsam mit der Opposition zu regieren.

Jimmy
Jimmy "Barbecue" Chérizier droht dem Premier und dem Ausland mit einem Bürgerkrieg.
REUTERS/Ralph Tedy Erol

Das war den kriminellen Banden aber nicht genug bzw. trauten sie wohl Henry nicht mehr. Stattdessen nutzten sie am Wochenende eine Auslandsreise Henrys, um den Flughafen, Polizeistellen und Gefängnisse zu attackieren und tausende Häftlinge zu befreien. Jimmy "Barbecue" Chérizier, einst Polizist und nun mächtiger Boss der Bande "G9-Familie und Verbündete", hatte die kriminellen Gruppierungen aufgerufen, sich zu vereinigen, um Henry zu stürzen.

Keine Rückkehr möglich

Der Premier war nach Kenia gereist, um die Entsendung einer multinationalen UN-Eingreiftruppe nach Haiti zu fixieren, die von Kenia geleitet werden soll. In seine Heimat kann er vorerst nicht zurückkehren, da der Flughafen in Port-au-Prince nicht angeflogen werden kann. Beim Nachbarn, der Dominikanischen Republik, erhielt er keine Landeerlaubnis. Am Dienstag war seine Maschine in Puerto Rico gelandet, sein genauer Aufenthaltsort war zuletzt nicht bekannt.

In einer Pressekonferenz erklärte Chérizier, der für zahlreiche Massaker in Port-au-Prince verantwortlich sein soll, dass er "bis zum letzten Tropfen Blut" kämpfen wolle. Sollte es Henry wagen, ins Land zurückzukehren, werde er ihn jagen und stürzen. Sollte eine UN-Eingreiftruppe ins Land kommen, "wird es einen Bürgerkrieg geben, der in einen Genozid münden wird".

Die Regierung reagierte auf den Gewaltausbruch mit der Ausrufung des Ausnahmezustands und einer 72-stündigen Ausgangssperre. Zu bezweifeln ist aber, ob dies zur Beruhigung beiträgt. Die staatlichen Behörden sind schlicht zu schwach, um den Banden Einhalt gebieten zu können.

Vereinte Nationen besorgt

Aus Port-au-Prince sind mittlerweile mehr als 15.000 Menschen vor den neuen Gewaltausbrüchen geflohen. Der UN-Sicherheitsrat zeigt sich angesichts der Lage in Haiti "besorgt", UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk forderte die Entsendung einer multinationalen Sicherheitsmission, um ein weiteres Abrutschen des Landes "ins Chaos" zu verhindern.

Die USA, die Henry bislang stützten, forderten ihn nun dazu auf, den Übergang zu einer neuen "Regierungsstruktur" zu beschleunigen, um so den Einsatz einer "multinationalen Mission" vorzubereiten. Diese, so das US-Außenministerium, soll dann den Weg zu Neuwahlen ebnen. Washington dränge Henry zwar nicht zum Rücktritt, aber dazu, "Zugeständnisse im Interesse des haitianischen Volkes" zu machen. Außerdem, wurde betont, werde man Henry nicht dabei helfen, wieder nach Haiti zu kommen.

Eine Stellungnahme Henrys dazu ist nicht bekannt. Fraglich ist aber, ob er sich im Amt halten und ob er überhaupt noch einmal nach Haiti zurückkehren kann. Sicher ist nur eines: Haiti wird noch eine Zeitlang das Chaos erhalten bleiben. (Kim Son Hoang, 8.3.2024)