Noch ist unklar, wie Bandenboss Jimmy "Barbecue" Chérizier auf die Rücktrittsankündigung des Premiers reagiert hat.
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Haitis Interimspremier Ariel Henry hat seinen Rücktritt angekündigt. Er gibt damit dem Druck der kriminellen Banden nach, die große Teile des Karibikstaats kontrollieren und Anfang März Angriffe auf Flughäfen, Polizeistationen und Gefängnisse durchgeführt haben. Wie geht es nun weiter in Haiti, dem Dauerkrisenland, gebeutelt durch Naturkatastrophen, politisches Chaos und Gewaltausbrüche? DER STANDARD beantwortet die wichtigsten Fragen.

Frage: Was genau ist in Haiti passiert?

Antwort: Premier Ariel Henry hat in einer Videoansprache am Montagabend seinen Rücktritt angekündigt. "Die Regierung, die ich führe, wird direkt nach der Einsetzung eines Übergangsrats zurücktreten", erklärte er auf der benachbarten Karibikinsel Puerto Rico. "Ich bitte alle Haitianer, Ruhe zu bewahren und alles zu tun, damit Frieden und Stabilität so schnell wie möglich zurückkehren."

Einem US-Beamten zufolge hatte sich der 74-Jährige bereits am Freitag zum Rücktritt entschieden, diesen aber erst am Montag publik gemacht.

Frage: Wie wird der Übergangsrat gebildet?

Antwort: Am Wochenende trafen sich Vertreter der haitianischen Regierung, des Privatsektors, der Zivilgesellschaft und von religiösen Gruppen mit führenden Akteuren der USA und des karibischen Staatenbündnisses Caricom. Am Montag erklärte Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali, aktuell der Vorsitzende von Caricom, dass der Übergangsrat – oder Präsidialrat – aus sieben stimmberechtigten Mitgliedern und zwei Beobachtern bestehen wird, die die Gesellschaft Haitis so gut wie möglich widerspiegeln sollen.

Der Rat wird einen neuen Interimspremier und eine neue Interimsregierung ernennen, und er wird einen provisorischen Wahlrat etablieren, der die ersten Wahlen seit 2016 vorbereiten soll.

Jede Person, die angeklagt oder verurteilt oder von der Uno mit Sanktionen belegt wurde, kann nicht Teil des Übergangsrats werden. Das gilt auch für jene, die sich gegen eine UN-Resolution aussprechen, laut der eine UN-Eingreiftruppe nach Haiti entsandt werden soll. Ausgeschlossen sind zudem alle, die bei der nächsten Wahl antreten wollen.

Einen genauen Zeitplan für all diese Pläne gibt es vorerst nicht. Caricom erklärte, zunächst müsse die Sicherheit in Haiti wiederhergestellt werden. Das bedeutet auch, dass es noch unklar ist, wann Premier Henry tatsächlich zurücktritt.

Frage: Wieso hat Henry eigentlich seinen Rücktritt angekündigt?

Antwort: Nach der bis heute nicht voll aufgeklärten Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 hat Ariel Henry als Übergangspremier die Führung des Landes übernommen, er nimmt auch die Amtsgeschäfte des Präsidenten wahr. Demokratische Legitimität besitzt er keine, dafür wurde er lange von den USA unterstützt. Neuwahlen hat er, der immer wieder der Korruption bezichtigt wird, stets mit dem Hinweis abgelehnt, die prekäre Sicherheitslage lasse das nicht zu.

Schon kurz nach dem Tod von Moïse hatten sich Parteien und zivilgesellschaftliche Akteure in Haiti auf das sogenannte Montana-Abkommen geeinigt. Dieses sieht die Bildung einer Übergangsregierung vor, allerdings sabotierte Henry die Umsetzung. Zuletzt hieß es, Henry werde Anfang Februar aus dem Amt scheiden, doch auch daran hielt er sich nicht. Danach hatte er sich mit der Opposition darauf geeinigt, binnen zwölf Monaten Neuwahlen abhalten zu lassen und bis dahin gemeinsam mit der Opposition zu regieren.

Die Vereinigten Staaten, erklärte ein US-Offizieller der "Washington Post", hätten Henry im vergangenen Jahr immer wieder dazu gedrängt, den Weg zu Neuwahlen zu ebnen, doch dieser sei nicht gewillt gewesen, "seine Macht aufzugeben".

Die kriminellen Banden, die große Teile Haitis kontrollieren, nutzten schließlich Anfang März eine Auslandsreise Henrys nach Kenia, um Flughäfen, Polizeistellen und Gefängnisse anzugreifen und tausende Häftlinge zu befreien. Jimmy "Barbecue" Chérizier, mächtiger Boss der Bande "G9-Familie und Verbündete", hatte die kriminellen Gruppen aufgerufen, sich zu vereinigen, um Henry zu stürzen.

Sollte Henry, der sich derzeit im Ausland aufhält, zurückkehren und sollten ausländische Eingreiftruppen ins Land kommen, versprach Chérizier vor mehr als einer Woche einen Bürgerkrieg, "der in einem Genozid enden wird".

Schließlich rückten auch die USA, die am Wochenende Mitarbeiter ihrer Botschaft in Haiti aus dem Land flogen, von Henry ab. Außenminister Antony Blinken erklärte nun, der geplante Übergangsrat habe die Aufgabe, die Grundversorgung der Haitianer sicherzustellen und die Bedingungen für freie Wahlen zu schaffen. Die USA würden 100 Millionen Dollar für den Einsatz einer Truppe, die die Sicherheit in Haiti wiederherstellen soll, bereitstellen. Zudem seien 33 Millionen Dollar für humanitäre Hilfe vorgesehen.

Henry, der derzeit nicht nach Haiti zurückkehren kann und sich im US-Außengebiet Puerto Rico aufhält, darf laut den Vereinigten Staaten dort bleiben, wenn er das will. Josué Pierre-Louis, Generalsekretär des haitianischen Präsidialamts, erklärte der "Washington Post", es sei unklar, wann Henry nach Haiti reisen könne. Offenbar ist der Interimspremier also gewillt, trotz der Drohung der Banden heimzukehren.

Frage: Wie soll diese UN-Eingreiftruppe aussehen?

Antwort: Diese Truppe ist schon länger geplant. Eigentlich hätte Kenia sie leiten sollen, allerdings hatte ein Gericht dort die Entsendung von Truppen als verfassungswidrig erklärt. Kenia und Haiti unterzeichneten weitere Abkommen, um auf die gerichtlichen Bedenken einzugehen. Henry wollte mit seiner Reise nach Kenia für die UN-Eingreiftruppe werben.

Die USA stellen wie erwähnt weitere 100 Millionen US-Dollar für die Eingreiftruppe zur Verfügung, insgesamt werden damit 300 Millionen an Unterstützung versprochen. Allerdings muss der Kongress noch zustimmen. Aktuell, so ein UN-Sprecher am Montag, seien gerade einmal elf Millionen in den Fonds eingezahlt worden, der die Eingreiftruppe finanzieren soll. Aus Washington hieß es, man arbeite am Okay des Kongresses.

Washington gilt als größer Befürworter dieser Mission, schließt aber aus, sie auch anzuführen. Fast ein Jahr lang hat es gedauert, bis die Regierung von Joe Biden mit Kenia ein Land gefunden hat, das diese Rolle einnehmen will.

Trotzdem ist noch vieles unklar: Welche Länder nehmen noch teil? Wann kann die Mission starten? Ist sie wirklich gerüstet für die kriminellen Banden in Haiti? Was sind die genauen Ziele?

Frage: Wie haben die Banden auf Henrys Rücktrittsankündigung reagiert?

Antwort: In sozialen Medien kursieren Videos, in denen Menschen auf den Straßen Haitis tanzen und feiern. Auch Feuerwerkskörper wurden offenbar abgeschossen. Chérizier sagte aber am Montag haitianischen Medien, Caricom könne nicht entscheiden, wer Haiti führen soll. Das stehe allein dem Volk zu. Das klingt also danach, als würde man den Plänen für eine Übergangsphase kritisch gegenüberstehen.

In der Theorie würde eine UN-Eingreiftruppe rasch wieder für Ordnung sorgen. Ein Übergangsrat würde gebildet, Henry würde zurücktreten, und es würde in absehbarer Zeit Neuwahlen geben. Die Umsetzung hängt aber eben auch vom Verhalten der Banden ab. Denn die USA gehen davon aus, dass diese große Waffenarsenale angehäuft haben.

Auch in Kenia, das die UN-Truppe anführen soll, gibt es Zweifel an der Umsetzung. Enock Alumasi Makanga, ein ehemaliger Polizist und nun Leiter der Schutz- und Sicherheitsvereinigung in Kenia, sagte der Nachrichtenagentur Reuters, dass die kenianischen Truppen nicht gut genug ausgebildet und ausgerüstet seien, um solch eine Mission durchzuführen. "Der Grad an Kriminalität in Haiti ist jenseits dessen, was unsere Männer tun können." (Kim Son Hoang, 12.3.2024)