Eltern mit Kinderwägen, Pensionistinnen mit und ohne Rollatoren, junge Männer und Frauen, die ein Eis in der Sonne genießen: Der Reumannplatz in Wiens zehntem Bezirk erinnert am Dienstagvormittag so gar nicht an das, womit er häufig in Verbindung gebracht wird. Keine kriminellen Jugendbanden, keine (offensichtlichen) Drogendeals. Und keine Messerstechereien, wie am Sonntag und Montag gleich an zwei Tagen hintereinander. Lediglich eine Gruppe, die sich eine Flasche Vodka teilt und sich, in Zigarettenqualm gehüllt, laut unterhält, könnte das friedliche Bild etwas stören. Ob sich der zehnte Bezirk in die falsche Richtung entwickelt? Die Menschen hier sind sich nicht sicher. In einem Punkt sind sich aber alle einig: Abends wollen sie nicht allein herkommen.

Zwei Messerangriffe in zwei Tagen

An zwei aufeinanderfolgenden Abenden ist es auf dem Reumannplatz in Wien-Favoriten zuletzt zu Messerangriffen gekommen. Am Sonntag war ein 21-jähriger Grundwehrdiener verletzt worden. Junge Männer sollen zuvor eine Frau belästigt haben. Er soll sich eingemischt haben und in der Folge mit einem Messer verletzt worden sein. Der Täter wurde noch nicht gefasst. Gleich am nächsten Tag wurde wieder eine Person angegriffen, die Landespolizeidirektion bestätigte am Dienstag einen entsprechenden Bericht des "Kurier". Demnach kam es am Montag zu einem Einsatz der Polizei nach einem Messerangriff. Die Rettung versorgte gegen 21.30 Uhr einen verletzten 20-Jährigen am Reumannplatz, der nicht in Lebensgefahr schweben soll. Polizisten nahmen kurze Zeit später einen 18-jährigen syrischen Staatsbürger als Verdächtigen am Keplerplatz fest. Bei ihm wurde ein Messer, mutmaßlich die Tatwaffe, sichergestellt. Laut einer Sprecherin der Wiener Polizei sei der Messerstich im Zuge einer Rangelei mit mehreren Beteiligten ausgeübt worden.

Die Tat ereignete sich nur wenige Stunden nach einem Lokalaugenschein von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) am Reumannplatz, bei dem er die Einrichtung einer "Einsatzgruppe Jugendkriminalität" bekanntgab. Im Rahmen der Schwerpunktaktion sei dann auch der mutmaßliche Täter festgenommen worden, gab die Polizei bekannt. Ebenfalls in der Nacht auf Dienstag erwischten Polizisten in Favoriten zwei 13-Jährige sowie einen 14-Jährigen, die mehrere Autos durchwühlt haben sollen. Aufgebrochen waren die Autos nicht, offenbar waren sie nicht versperrt.

Dienstagvormittag am Reumannplatz im 10. Wiener Gemeindebezirk.
Am Dienstagvormittag ist es am Reumannplatz friedlich. Nur eine trinkende und lärmende Gruppe stört die Ruhe ein wenig.
DER STANDARD / Antonia Wagner

Tags darauf lehnt ein Taxifahrer lässig an der Beifahrertüre seines weißen Mazdas und isst einen Apfel am Reumannplatz. "Hier muss mittlerweile jeder aufpassen, dass er nicht abgestochen wird", sagt der Mann mit Lederjacke und blau verspiegelter Sonnenbrille. In seinen 40 Jahren im Taxidienst hätte er "so einiges erlebt". Vor allem, wenn es finster werde, dann würden hier am Reumannplatz junge Afghanen und Tschetschenen in großen Gruppen abhängen. Das dürfe man aber so nicht sagen, meint der Taxifahrer. Politisch sei das schließlich nicht erwünscht. Er fahre trotzdem gerne Taxi im Zehnten, er kenne sich in dem Bezirk einfach aus. Wohnen wolle er hier nicht.

Dabei hat Favoriten auf dem Papier seine schönen Seiten: 83 Parks finden sich im Zehnten, 46 Prozent der Bezirksfläche entfallen auf Grünland und Gewässer. Im Schnitt sind die Favoritnerinnen und Favoritner zwei Jahre jünger als die Gesamtbevölkerung in Wien. Nach dem Vorbild Barcelonas wurde im zehnten Bezirk zudem ein "Supergrätzel" mit Verkehrsberuhigung und viel Grün als Pilotprojekt aufgezogen. Bekannt ist Favoriten aber vor allem für etwas anderes: die Kriminalität am Kepler- und am Reumannplatz.

Veränderte Situation

"Wie in jeder anderen Stadt verändert sich die Situation natürlich auch in Favoriten regelmäßig, wo so viele Menschen wie in Linz leben", sagt Guido Fritz. Fritz leitet ein elfköpfiges Team der mobilen sozialen Arbeit der Suchthilfe Wien, das unter anderem auch in Favoriten unterwegs ist. "An und für sich ist die Situation in Favoriten in den vergangenen Jahren aus Sicht der mobilen sozialen Arbeit im öffentlichen Raum stabil", sagt er. Es seien allerdings neue Gruppen hinzugekommen, die mitunter das Zusammenleben im öffentlichen Raum verändert hätten. "Individuell angstmachende Situationen sind aber selbstverständlich ernst zu nehmen", meint Fritz. Die mobile soziale Arbeit im öffentlichen Raum arbeite "mit vielen anderen Organisationen" daran, dass "sich niemand im öffentlichen Raum unsicher fühlen muss", sagt der Sozialarbeiter: "Betreffend die Arbeit mit marginalisierten Menschen ist es unser Ziel, ihnen eine Perspektive zu geben und deren Lebenssituation auf sozialer, psychischer und physischer Ebene zu verbessern."

Eine junge Frau aus Bayern, der Liebe wegen nach Favoriten gezogen, zieht an ihrer E-Zigarette. Sie atmet aus und erklärt nachdenklich, dass sie den Reumannplatz bei Nacht gezielt vermeide. Schlechte Erfahrungen habe sie noch nie gemacht, aber was man so höre, sei ihr genug. Sie fahre entweder mit dem Auto oder gehe am Abend nur mit ihrem Freund raus. Als die Frau in der Arbeit erzählt habe, dass sie in den Zehnten ziehe, hätten die Kolleginnen sie gefragt, ob sie "deppat sei". Ganz so dramatisch sehe sie das nicht, schließlich könne überall etwas passieren. Aber wo diese Kameras eigentlich sind, die am Reumannplatz angebracht seien, das frage sie sich schon lange.

Das alte Favoriten

Seit September wird in Favoriten der Keplerplatz videoüberwacht. Den Anfang machte aber der Reumannplatz. 2021 wurde dort eine stationäre Videoüberwachungsanlage eingerichtet. Karl Nehammer, heute Kanzler, damals Innenminister, wollte "kriminellen Strukturen", die "oft Nährboden für Radikalisierung und Extremismus" seien, auch mit Schwerpunktaktionen in Favoriten entgegenwirken. Zuvor hatte es 2021 Krawalle im Zehnten gegeben.

Walter sehnt sich nach dem Favoriten von früher, wie er es nennt. Er ist geboren und aufgewachsen in Favoriten und jetzt "zu alt, um wegzuziehen". Der Zehnte sei ein schöner Bezirk gewesen, jung, grün und aufstrebend. Jetzt sei alles angeschmiert, es sei "ein Wahnsinn, was gerade passiert". Er zeigt in Richtung Eissalon Tichy, vor dem am Sonntag der Grundwehrdiener mit einem Messer verletzt wurde.

Ein beliebter Ort am Reumannplatz: der Eissalon Tichy. Am Sonntag wurde hier ein Grundwehrdiener Opfer eines Messerangriffes.
Ein beliebter Ort am Reumannplatz: der Eissalon Tichy. Am Sonntag wurde hier ein Grundwehrdiener Opfer eines Messerangriffs.
DER STANDARD / Antonia Wagner

Dann dreht sich Walter um und deutet in die entgegengesetzte Richtung: "Und dort unten irgendwo, dort haben sie die Zwölfjährige vergewaltigt." Er bezieht sich auf den Fall eines Mädchens, das in Favoriten von 17 jungen Burschen über Monate hinweg zu sexuellen Handlungen gedrängt worden war. Die Politik habe hier etwas übersehen, meint Walter und geht zur Bushaltestelle, wo er auf seine Ehefrau warten möchte.

Auf einer Bank unweit vom Tichy sitzt eine 88-jährige Vösendorferin und isst ein Heidelbeereis. Sie komme oft hierher, extra wegen des Eissalons. Sie sei ja noch fit und habe Zeit, erklärt sie. Viel Bargeld habe sie nie dabei, für den Fall, dass man sie ausrauben würde. Aber untertags sei es hier sowieso sehr nett, erzählt die Pensionistin. Manchmal frage sie sich, was den Jugendlichen fehle, die gewalttätig werden. Vor allem, wenn sie in den Medien von Messerstechereien oder anderen Gewalttaten höre: "Warum machen die das?" (Antonia Wagner, 19.3.2024)