Die Zahl von Asylanträgen in Österreich ist zuletzt stark gesunken – doch im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen ist das nur zum Teil zu bemerken. An der Pforte sind immer wieder junge Burschen zu sehen, die ein und aus gehen. Obwohl in den Häusern auf dem großflächigen Areal derzeit weit weniger Geflüchtete als noch vor einem Jahr auf Zulassung oder Nichtzulassung ihres Verfahrens hierzulande warten: Einen Rückstau gibt es in Österreichs größtem Asylquartier nach wie vor.

Zwei junge Burschen vor dem Eingang zum Erstaufnahmezentrum Traiskirchen
Im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen leben mehrere Hundert allein geflohene Jugendliche – meist junge Burschen.
Foto: Regine Hendrich

Dieser besteht aber nicht aus schutzsuchenden Personen jeden Alters, sondern aus mehreren Hundert unter 18-Jährigen, großteils jungen Männern, die alleinreisend nach Österreich gekommen sind: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF). Zwar ist ihre Zahl aufgrund abnehmender Asylanträge auch im Lager weniger geworden, doch der Engpass bleibt bestehen. 2023 ersuchten laut der vorläufigen Jahresstatistik in Österreich 5.089 UMFs um Asyl, die meisten von ihnen aus Afghanistan (2.682) und Syrien (1.334 Minderjährige).

Monatelang im Erstaufnahmezentrum

Derzeit befinden sich 210 unbegleitete Minderjährige in Erstausfnahmezentren. Ein Großteil von ihnen, rund 80 Prozent, sollte schon seit Wochen oder Monaten, in Einzelfällen gar mehr als ein Jahr, nicht mehr dort, sondern in einem Länderquartier sein. Laut der Grundversorgungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern, die kommenden Sonntag vor genau 20 Jahren im Nationalrat beschlossen wurde, ist der Bund und damit die Bundesunterbringungsagentur BBU nur im Asylzulassungsverfahren für Quartier und Versorgung zuständig. Danach sind die Länder an der Reihe.

Diese jedoch haben zu wenig Betreuungsplätze für UMFs. Daher muss die BBU für sie sorgen, um zu verhindern, dass sie auf der Straße stehen. Für Aimée Stuflesser, Expertin für Asyl und Migration bei Amnesty International Österreich, ist das ein klarer Menschenrechtsverstoß. "Für Minderjährige, also Kinder, gilt die Kinderrechtskonvention, die Österreich im Jahr 1992 ratifiziert hat. Unbegleiteten Kindern, die auf der Flucht nach Österreich ankommen, muss derselbe Schutz gewährt werden wie jedem anderen Kind, das nicht bei seiner Familie leben kann." Österreich erfülle diese Vorgabe seit vielen Jahren nicht.

Fehlende Obsorge

Woran liegt das? Wie konnte es dazu kommen? Das hat erstens mit dem Problem der Obsorge zu tun. Seit Jahren fordern NGOs eine gesetzliche Vertretung für allein reisende Kinder auf der Flucht ab Tag eins. Bis heute gibt es sie nicht. Die für Traiskirchen und andere Erstaufnahmezentren des Bundes zuständigen Jugendämter in den Bezirkshauptmannschaften übernehmen die gesetzliche Vertretung nicht.

Die Folge: Die allein reisenden Kinder und Jugendlichen sind sich selbst überlassen. Viele tauchen ab – oft in andere Staaten, wo sie Verwandte oder Bekannte haben. Etliche aber dürften in die Schwarzarbeit oder Prostitution wechseln oder gar zu Opfern von Menschenhändlern werden.

Tagsatz seit vielen Jahren gleich

Darüber hinaus findet das System der Grundversorgung seit Jahren keine Lösung für die chronische Geldnot bei der Versorgung geflüchteter Kinder. Auch in der auslaufenden Legislaturperiode gab es keinen Durchbruch, obwohl sich Türkis und Grün in ihrem Regierungsprogramm dazu bekannten – und laut der grünen Menschenrechtssprecherin Ewa Dziedzic weiterhin dazu bekennen. Wenige Monate vor der nächsten Bundeswahl gibt es zwar eine grundsätzliche Einigung auf mehr Geld für UMFs, doch die Umsetzung lässt auf sich warten.

Warum ist das so? Das hat mit den Vergütungsregeln in der Grundversorgung zu tun: Asylquartiere in den Ländern werden durch Tagsätze finanziert, nur in Wien läuft ein alternatives Realkostenmodell zur Probe. Der Tagsatz für die Grundversorgung eines minderjährigen Flüchtlings beträgt seit vielen Jahren 95 Euro pro Person. "Um dieses Geld ist eine für Minderjährige passende Betreuung nicht zu organisieren", sagt Lisa Wolfsegger, Fluchtwaisen-Zuständige bei der Asylkoordination. Sie vergleicht: In der Kinder- und Jugendhilfe sonst werden 200 Euro und mehr pro Kind und Tag aufgewendet.

Langer Weg zu mehr Geld

In Sachen finanzielle Aufstockung agiere das Grundversorgungssystem schwerfällig, sagt Wolfseggers Asylkoordinationskollege Lukas Gahleitner. Um zu ermöglichen, dass die Länder mehr Geld für die Schaffung passender UMF-Betreuungsplätze bekommen, braucht es erstens den politischen Willen. Dann müssen sich die Landesflüchtlingsreferentinnen und -referenten in ihrer regelmäßig stattfindenden Konferenz – Abkürzung: Flürk – auf höhere Summen einigen.

Alsdann ist das Innenministerium am Zug. Es muss einen Verordnungsentwurf erarbeiten. Dieser wird anschließend in die Bundesländer geschickt. Er muss vom Landtag jedes einzelnen Bundeslandes abgesegnet werden. Laut dem Innenministerium läuft derzeit ein "Abstimmungsprozess mit den Ländern".

Keine Zahlen, wenig Transparenz

Gahleitner kritisiert auch die Intransparenz im heimischen Betreuungssystem. Details die aktuellen Zahlen grundversorgter Personen betreffend, etwa wie viele subsidiär Schutzberechtigte sich unter ihnen befinden, würden nicht veröffentlicht. Das führe bei vielen Menschen zum Überschätzen der Zahl von Flüchtlingen im Land.

Die Aufnahme von Asylwerbenden in die Länderbetreuung wiederum gehe auf undurchsichtige Art vor sich. Die GVS-Koordinationsstelle BBU erhalte vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Informationen, wer in die Länder verlegt werde soll. Die Länder könnten sich aussuchen, wen sie aufnehmen – und wen nicht. "Auf die Dauer führt das zu Verwerfungen", sagt Gahleitner. Manche Länder sollen dem Vernehmen nach nur Asylwerber übernehmen, die ihnen von der Hautfarbe und Nationalität her genehm sind.

Amnesty: Skandal nicht schubladisieren

Eineinhalb Jahre brauchte es, bis die von den Landesflüchtlingsreferenten auf den Weg gebrachte Erhöhung der Tagsätze für erwachsene Asylwerbende auf 25 Euro in ganz Österreich umgesetzt wurde. Für mehr Geld in der UMF-Betreuung in Österreich fehlt vor der Nationalratswahl im Herbst inzwischen wohl schlicht die Zeit.

Dennoch dürfe der Menschenrechtsskandal um junge Flüchtlinge von der Politik nicht schubladisiert werden, sagt Amnesty-Expertin Stuflesser. Sie fordert die Parteien in Österreich auf, Verbesserungen für UMFs in ihr Programm für den Nationalratswahlkampf aufzunehmen. (Irene Brickner, 21.3.2024)