Reumannplatz
Ein Frühlingstag am Reumannplatz in Favoriten.
DER STANDARD / Antonia Wagner

Es ist ein fast perfekter Frühlingstag auf dem Reumannplatz. Wolkenloser Himmel, die Schaukeln auf dem Spielplatz quietschen, im Eissalon Tichy wird nach der Winterpause wieder Eis verkauft. Es ist etwas kühler als die Tage zuvor, aber der Reumannplatz lebt: Kinder, Mütter, Grüppchen an jungen Leuten und älteren Herrschaften, alle plaudern – auf Arabisch, Türkisch, Deutsch, Serbisch. Auf Laternenmasten hängen Zettel: "Deutschkurse von A1 bis C2".

"Untertags ist es hier schon schön. Aber sobald es dunkel wird, kommen sie raus. Wie die Werwölfe." (Ein Lokalbetreiber über die Gruppen am Reumannplatz)

Ein paar Männer hören laut Musik aus einer mitgebrachten Lautsprecherbox, auf dem Tisch vor ihnen steht eine Flasche Wodka. Sie tanzen, als würde niemand zusehen. "Ya-ya-ya coco jamboo, ya-ya yeah." Es ist ein fast perfekter Frühlingstag auf dem Reumannplatz in Favoriten, dem berüchtigten zehnten Bezirk von Wien. Zumindest solange es nicht dämmert. "Untertags ist es hier schon schön. Aber sobald es dunkel wird, kommen sie raus", erzählt ein Lokalbetreiber. "Wie die Werwölfe."

16.41 Uhr – 1. Akt: Die gestörte Idylle

"Schau, dass du nicht runterfällst", ruft ein Papa seinem Buben zu, der auf einem Mauervorsprung am Platz balanciert. Das Kleinkind wackelt auf eine junge Frau mit Kapuzenpulli und Jeansjacke zu. Vor ihr stehen zwei junge Männer. Sie drücken ihre Hand; offensichtlich, um ihr etwas zu übergeben. Die Frau steht auf und verschwindet im selben U-Bahn-Schacht, aus dem sie vor ein paar Minuten gekommen war. Wahrscheinlich hat der kleine Bub gerade seinen ersten Drogendeal beobachtet. Ohne es zu wissen.

Ein paar Meter daneben sitzen Frauen neben Schultaschen. Kinder spielen Fußball, die Mehrheit der Menschen auf dem Reumannplatz schleckt ein Eis. Es ist ein Platz, den es in jeder Großstadt gibt: ein zentraler Verkehrsknotenpunkt, mehrere U-Bahn-Eingänge, Menschen jeden Alters, unterschiedlicher Herkunft.

Rund um die U-Bahn-Station lungern ein paar junge Männer, die auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar sind. Zumindest derzeit noch. Die meisten von ihnen sprechen Arabisch, es sind junge Flüchtlinge, die sich auf dem Reumannplatz ihre Zeit vertreiben und mit ein bisschen Dealen etwas dazuverdienen. Das weiß hier auf dem Platz jeder. Auch dass die Kapuzenpullover und Kappen helfen, das Gesicht vor den Kameras der Polizei zu verstecken. In der Wiese und in den Büschen seien die Drogen versteckt, erzählt ein Anrainer.

Derzeit sind etwa 15 Flüchtlinge auf dem Platz, sie teilen Zigaretten, Schokolinsen, Chips und Wasserflaschen miteinander. Am Nachmittag verhalten sich die Burschen recht unauffällig, hängen ab, manchmal spielen sie ein Lied auf einem Handy ab oder drücken Passanten ein kleines Päckchen in die Hand. Für viele Menschen auf dem Reumannplatz sind sie der Grund, warum der Ort so verkommt. Manche sagen, sie meiden den Platz, vor allem am Abend. Andere verstehen die Aufregung nicht, auch einige Favoritnerinnen sagen, es gebe keinen Grund zur Panik.

Zuletzt ist jedenfalls ziemlich viel passiert auf dem Reumannplatz. Am Donnerstag kam es zu einer Schlägerei, zwei Männer, darunter ein Libyer, wurden mit einem Messer verletzt. Am Montag hatte Innenminister Gerhard Karner, ein ÖVP-Mann, den Platz besucht und vor Ort eine neue Einsatzgruppe zur Bekämpfung von Jugendkriminalität vorgestellt. Ein paar Stunden später wurde ein 20-Jähriger auf dem Reumannplatz niedergestochen, schwer verletzt. Tatverdächtig ist ein 18-jähriger Syrer.

Eissalon Tichy
Der Eissalon Tichy am Wiener Reumannplatz.
APA/FLORIAN WIESER

Am Tag davor war vor dem Eissalon Tichy ein 21-jähriger Grundwehrdiener durch Messerstiche schwer verletzt worden. Der junge Mann soll einer Frau zu Hilfe gekommen sein, die von einer Gruppe Jugendlicher belästigt wurde, sagt die Polizei. Daraufhin stach einer aus der Gruppe auf den 21-Jährigen ein. Am Samstag teilte diesbezüglich ein Polizeisprecher mit, dass ein 20-jähriger Syrer in einer Wohnung im zehnten Bezirk wegen versuchten Mordes festgenommen worden sei.

Anfang März soll vor einem Imbiss auf dem Reumannplatz ein Tschetschene zuerst mit Pfefferspray und dann einem Messer auf einen Syrer losgegangen sein, nachdem der ihm Drogen angeboten hatte. Und seit Wochen wird über ein damals zwölfjähriges Mädchen berichtet, das von einer Gruppe junger Burschen mehrfach missbraucht worden sein soll. Schauplatz all dieser Verbrechen: Favoriten.

Was ist bloß los in diesem Bezirk?

17.12 Uhr – 2. Akt: Politischer Kampfplatz

Der Reumannplatz ist für Michaela Heidecker jener Ort, an dem sie ihren Arbeitstag ausklingen lässt. Hier steigt die 48-jährige Freizeitpädagogin aus der U-Bahn, bestellt einen Spritzer, spielt Wortblitz auf dem Handy, zündet sich eine Marlboro Touch an. "Ich mag es, dass hier Leben ist", sagt die gebürtige Kroatin. Um 18 Uhr aber zieht sie üblicherweise weiter, nimmt den Bus ums Eck nach Hause. Werde es später, steige sie in ein Taxi, sagt sie. Heidecker hat freundliche Augen, in ruhigem Tonfall sagt sie: "Wir haben alle Angst." Sie meint damit: sich selbst, ihre Freundinnen, ihre Schwester. "Vielen Damen geht es so." Auch ihr Mann sei in Sorge, wenn sie am Reumannplatz sitze. Da bekommt sie eine SMS von ihm: "Heute schon eine Messerstecherei gesehen?", liest sie vor und schmunzelt.

"Vielleicht kommt es uns auch nur so viel vor", sagt sie. Den ganzen Tag laufe zu Hause der Fernseher, drei Zeitungen habe ihr Mann abonniert. Die jungen Männer hier stünden den ganzen Tag herum, ohne Ziel, ohne Struktur, ohne ordentliche Beschäftigung. "Natürlich kommen sie da eher auf blöde Gedanken." Mehr Polizei brauche es, aber auch mehr Einbindung in die Gesellschaft, sagt Heidecker. Sie und ihr Mann seien "immer SPÖ gewesen", aber jetzt überlege sie, "rechts zu wählen". Die FPÖ? Michaela Heidecker zuckt mit den Schultern, nickt. "Es wird zu viel."

Die schlechte Nachrede hat Favoriten auch abseits schlagzeilenträchtiger Gewalttaten – vor allem, wenn die Opposition über den rot regierten Arbeiterbezirk spricht. FPÖ und ÖVP beschreiben den Zehnten als "Brennpunkt" oder "No-Go-Area". Kürzlich erklärte Dominik Nepp, Parteiobmann der Hauptstadt-FPÖ, in einer Aussendung: Favoriten sei "gefallen". Auch der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer berichtet von einem "alarmierenden Ausmaß" der Sicherheitsbedenken vor Ort. Freiheitliche und Sozialdemokraten fordern vom Innenminister deutlich mehr Polizistinnen und Polizisten für den Bezirk. SPÖ-Bezirksvorsteher Marcus Franz rechnet vor, dass die Anzahl der Polizistinnen und Polizisten in seinem Bezirk im Verhältnis zur Bevölkerung niedriger sei als anderswo. Favoriten zählt knapp 220.000 Einwohner – mehr als Linz, die immerhin drittgrößte Stadt des Landes.

Während aber in Linz knapp 600 Beamtinnen und Beamte ihren Dienst verrichten, sind es in Favoriten rund 300. In der Politik wird viel über Favoriten gesprochen, vor Ort sagt fast jeder: Getan wird zu wenig.

"Zur Videoüberwachung am Reumannplatz: Da sagt die Polizei selbst, dass sie zwar präventiv gut ist, aber nicht hilft, wenn sich Leute den Hoodie oder das Kapperl überziehen." (Favoritens Bezirksvorsteher Marcus Franz)
Karner
Innenminister Karner bei einer Schwerpunktaktion der Polizei in Favoriten.
APA/FLORIAN WIESER

17.31 Uhr – 3. Akt: Das Katz-und-Maus-Spiel

Plötzlich sind alle jungen Flüchtlinge weg. Wie vom Erdboden verschluckt, von einer Minute auf die nächste. Kurz darauf fährt ein Polizeiwagen über den Reumannplatz. Er bleibt nicht stehen. 55 Sekunden später ist die ganze Gruppe wieder auf dem Platz. Es gebe Späher, erzählt ein Kellner vor Ort. Immer wenn die Polizei komme, seien alle Burschen verschwunden. Zumindest tagsüber.

Vielen Menschen macht das Angst. Junge Männer, die vor der Polizei davonlaufen, die dealen; die vielen Berichte über Gewalttaten. Die harten Fakten widersprechen allerdings dem subjektiven Gefühl von Unsicherheit. Das gilt für ganz Wien, wo die Kriminalität seit Jahrzehnten eher rückläufig ist. Und es gilt tendenziell auch für Favoriten. Obwohl für einen guten Vergleich die Zahlen fehlen.

Gemessen an der Anzahl der angezeigten Straftaten liegt Favoriten tatsächlich vor anderen Bezirken. Der Zehnte ist aber auch der Bezirk mit den meisten Einwohnerinnen und Einwohnern Wiens. Setzt man die Kriminalitätsfälle in Verhältnis zu den dort lebenden Menschen, liegt Favoriten nur noch im Mittelfeld. Und die bevölkerungsärmere Innere Stadt führt plötzlich das Ranking an.

Allerdings: Die Delikte könnten sich je nach Bezirk unterscheiden. Es wird keine differenzierte Statistik veröffentlicht. Die Polizei unterstreicht, dass die Anzahl an Straftaten allein nicht erkläre, wie sicher eine Gegend sei. In der Inneren Stadt kommt es etwa häufiger zu Taschendiebstählen als anderswo.

In Favoriten betreffen die meisten Anzeigen Eigentums-, Gewalt- und Drogendelikte. Die Polizei betont: Organisierte Jugendbanden gebe es nicht, schon aber jugendliche Täter, die als Gruppen vorgehen. Die Staatsanwaltschaft Wien verwies am Donnerstag darauf, dass im Bereich Jugendkriminalität zuletzt ein Anstieg an Fällen von schwerer Gewalt bemerkbar sei.

Das Polizeiauto, das vorhin über den Reumannplatz fuhr, ist zurückgekehrt und parkt nun direkt neben einem der U-Bahn-Aufgänge. Die Burschen sind wieder verschwunden. Zwei junge Männer, die auf dem Mauervorsprung sitzen, zücken beim Anblick der aussteigenden Polizei sofort ihre Ausweise. Sie werden offenbar nicht zum ersten Mal kontrolliert. Die Polizisten tasten sie von oben bis unten ab, finden nichts.

Das Problem sei auch die "Perspektivlosigkeit marginalisierter Menschen", sagt Guido Fritz. Viele hätten keinen anderen Ort zum Abhängen als öffentliche Plätze. Fritz leitet ein elfköpfiges Team der mobilen sozialen Arbeit der Suchthilfe Wien, das den Hauptbahnhof und andere Orte in Favoriten aufsucht.

Viele betreute Menschen hier kämen aus Ost- und Südosteuropa, zuletzt seien vermehrt Menschen aus dem arabischen Raum hinzugekommen. Die meisten Auseinandersetzungen fänden aber innerhalb einzelner Gruppen statt. Eine Bedrohung für Außenstehende sieht Fritz "nicht wirklich".

Im zehnten Wiener Gemeindebezirk ist das subjektive Sicherheitsgefühl ein großes Thema.

18.27 Uhr – 4. Akt: Angst und Vorurteil

Auf dem Spielplatz packen Mütter Schaufeln und Plastikautos in die Kinderwagen. Eine Gruppe Teenager sammelt ihre Sachen zusammen, einer klemmt den Fußball unter den Arm. Männer in Arbeitshosen strömen aus der U-Bahn. Es wird ruhiger. Die meisten gehen, die jungen Männer bleiben.

Plötzlich brüllt ein junges Mädchen über den Platz. "Er macht mich kaputt", ruft sie verzweifelt in Richtung der jungen Flüchtlinge, inzwischen umfasst die Gruppe mindestens 30 Burschen. "Er hat mich hier gestochen", schreit sie und deutet auf ihren Arm. Die Burschen reagieren kaum. Das Mädchen wird von ihrer Freundin weggezerrt, hinunter in den U-Bahn-Schacht. Ihr Gebrüll wird noch länger zu hören sein.

Was sagen Szenen wie diese über den Reumannplatz aus und was über Favoriten? Was erzählt der Brennpunkt über die Stadt? Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie-, Sucht- und Drogenfragen für Wien, sagt, er beobachte, dass "der öffentliche Raum mehr genützt wird seit der Häufung von Krisen ab 2020 und massiv seit ein, zwei Jahren". Das gelte vor allem für jene, die sich weniger leisten könnten: kein Getränk im Lokal oder Kino. Dass es so zu mehr Konflikten komme, "liegt auf der Hand". Und er merke, was auch Studien zeigen: "Dass Menschen auch aufgrund dessen, dass die letzten vier Jahre sehr schwierig waren, grundsätzlich mehr Angst haben."

Im Fall von Favoriten kommt hinzu: Der Bezirk ist seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Zuwandererbezirk, wächst und entwickelt sich. Favoriten gilt seit Jahrzehnten als ein zumindest für Wiener Verhältnisse hartes Pflaster. Das Einkommen ist niedriger als im Wiener Durchschnitt, Akademikerquote und Frauenbeschäftigung ebenso.

Der Reumannplatz im Wiener Bezirk Favoriten war in den vergangenen Tagen wieder mehrfach Schauplatz von Gewalttaten. "Wir haben alle Angst", sagt eine Anwohnerin.
APA/FLORIAN WIESER

20.01 Uhr – 5. Akt: Im Dunkeln

Die Gruppe junger Männer ist inzwischen auf 80 bis 90 Menschen angewachsen. Ein Lokalbesitzer ärgert sich über die Burschen. Er arbeite hart, sein Vater zog eigens zum Arbeiten von der Türkei nach Wien. "Da flüchtest du aus dem Krieg und führst dich hier so auf", schimpft er in Richtung der Burschen. FPÖ-Chef Nepp habe kürzlich festgehalten, dass man zwischen den fleißigen Gastarbeiterkindern und den neu zugewanderten Problemverursachern differenzieren müsse. "Endlich sagt das einmal einer", sagt der Mann.

Die jungen Männer spielen Fußball, rauchen, trinken Energydrinks, hören laut Musik, manche tanzen. Vier Mädchen, sie sind wohl keine 15 Jahre alt, haben sich unter die Burschen gemischt. Eines hat leicht hellrosa gefärbte Haare, zwei tragen bauchfreie T-Shirts unter ihren großen Sweaterjacken. Die Mädchen rauchen und schäkern mit den Jungs.

Kristina ist 49, sie sei vor 25 Jahren aus Rumänien nach Favoriten gekommen – und weiterhin bis 21 oder 22 Uhr auf der Straße unterwegs. Sie fürchte sich nicht. "Ich bin selbst Ausländerin, was soll ich gegen die anderen sagen?", fragt sie und fügt an: "Wenn man viele Leute hineinlässt, muss man damit rechnen, dass viel passieren kann, wenn man sich nicht kümmert." Der Kaffeebesitzer ist weniger gnädig, an manchen Abenden seien bis zu 150 junge Männer hier. Er sperrt sein Lokal zu. Nach 20 Uhr komme wegen ihnen ohnehin niemand mehr zum Reumannplatz. (Anna Giulia Fink, Katharina Mittelstaedt, David Krutzler, 23.3.2024)