Ein Außenseiterpaar, das in der verbiesterten Kleinstadt kein Glück findet: Lady Torrance (Lisa Wagner) und Val Xavier (Tim Werths) in
Ein Außenseiterpaar, das in der verbiesterten Kleinstadt kein Glück findet: Lady Torrance (Lisa Wagner) und Val Xavier (Tim Werths) in "Orpheus steigt herab".
Matthias Horn

Der scheidende Burgtheater-Direktor Martin Kušej hinterlässt eine letzte, solide Regiearbeit. Finster, pessimistisch und klobig ist sie – eine Trias, die den Kärntner Regisseur seit jeher auszeichnet. Bemerkenswert ist allem voran die Stückauswahl: Kušej hievt das hierzulande kaum bekannte Außenseiterdrama Orpheus steigt herab (1957) von Tennessee Williams auf die Bühne. Der einst mit Marlon Brando und Anna Magnani verfilmte Stoff (The Fugitive Kind in der Regie von Sidney Lumet) war nie ein Erfolg, floppte sogar. In letzter Zeit aber taucht das Stück wieder auf.

Am Burgtheater hat es notwendige Striche erfahren. Und mit wenigen Andeutungen gelingt es, eine Brücke ins Heute zu bauen, da Ausgrenzung wieder eine unverhohlene politische Taktik geworden ist. Erzählt wird von einem Kaff in den US-amerikanischen Südstaaten, dessen Einwohner in der Begegnung mit Fremden ihre Verbiesterung offenbaren. Der titelgebende Orpheus ist ein vazierender Countrysänger namens Val (Tim Werths), der aufgrund eines Autoschadens im Ort hängen bleibt und unweigerlich auf Tuchfühlung mit den hier regierenden Familien geht.

Verpanzerungen

Sein Pendant ist eine ebenfalls mitteljunge Frau namens Lady (Lisa Wagner), Tochter italienischer Einwanderer. Sie meint, das Schlimmste schon hinter sich zu haben, nachdem vor zwanzig Jahren ein rassistisch motivierter Mob einen tödlichen Brandanschlag auf das Haus ihres Vaters verübt hat. Riesig auflodernde Flammen überziehen denn auch zu Beginn des Abends in einem Rückblick das zweistöckige Gebäudeagglomerat, das sich im düsteren Licht auf der Drehbühne des Burgtheaters von allen Seiten zeigt (Bühne: Annette Murschetz).

Hier wohnt Lady mit ihrem deutlich älteren Mann, dem todkranken Gemischtwarenhändler Jabe (Martin Reinke). Und hier heuert der Countrysänger als Aushilfskraft an. Die zwei Außenseiterfiguren (Werths, Wagner) kommen einander näher und bilden das Zentrum der Inszenierung. Ihre jeweils eigene Verstocktheit, ihre antrainierten Verpanzerungen machen jeden ihrer Dialoge zu einem Höhepunkt.

Sie stehen im Spannungsverhältnis zur dritten Ausgestoßenen, der unangepassten Linken Carol (Nina Siewert), die die konformistische Gemeinde ebenfalls brutal hinausekelt. Die in religiöse Visionen geflüchtete Vee (Sarah Viktoria Frick) oder auch der Sheriff und sein Gehilfe (Norman Hacker und Rainer Galke) mauern gegen abweichendes Verhalten.

Zusatz-Orpheus

In Gesprächen offenbaren sich Häme, Neid und sexuelle Frustration in der Bevölkerung. Die aufgedonnerte Beulah (Katharina Pichler) beispielsweise legt schlagartig ihre Schultern frei, als der fesche Val bei der Tür hereinkommt. Übergriffe ist man scheinbar gewöhnt. Dolly (Alexandra Henkel) hat ihrerseits gemäß Südstaatenfaustregel immer das Gewehr an ihrer Seite.

Die Stimmung dominiert der melancholische Country-Blues von Musiker Oliver Welter, der als mystisch gewandeter Geist samt Gitarre (Kostüme: Heide Kastler) die Szenen durchstreift. Ein Zusatz-Orpheus! Denn auch Tim Werths als Sänger in der Schlangenlederjacke stellt seine betörende sängerische Gabe unter Beweis. Hut ab! Wenige Male in dieser auf Langsamkeit (drehen, schweigen, drehen) setzenden Inszenierung wirken ausgerechnet diese Übergänge von der Melancholie des Daseins in diejenige des Gesangs abrupt und erzwungen.

Als Zeichen einer nicht naturalistischen Bühnensprache steckt übrigens ein Cabriolet, das uramerikanische Symbol von Freiheit, kopfüber und kerzengerade im Boden, als wäre es abgestürzt. Freiheit kaputt.

Neuer Männertyp

Wie modern das Stück dank seiner ungewöhnlichen Figurenkonstellation ist, erweist sich erst im Verlauf des knapp dreistündigen Abends. Vieles an der Konzeption ist ungewöhnlich: Ein Mann (und nicht eine Frau) ist hier Objekt der Begierde; ein Ex-Mann (Wolfram Rupperti) ist kein Rüpel, sondern lernfähig und mitfühlend; keine einzige der Frauen wird sexualisiert oder muss sich über ihren Mann definieren.

Vor allem aber repräsentiert die Titelfigur Val einen Mann, den es am Theater selten gibt: Er ist kein Alphatier, kein Held mit toxischen Eigenschaften, der sein Leid vor sich herträgt und alles mit sich reißt. Er will als Sängerstar kein Messias sein, dem alle zu Füßen liegen. Er ist – im Gegenteil – sensibel, ruhig, gelassen, traurig, aber ohne sich auszuliefern. Könnte sein, dass diesem Drama eine neue Theaterzukunft beschieden ist. (Margarete Affenzeller, 24.3.2024)