Die titelgebende
Die titelgebende "Unbekannte" (Birgit Unterweger) und Albert (Lucas Gregorowicz) kurz vor dem tragischen Showdown.
APA/VOLKSTHEATER/MARCEL URLAUB

Das letzte Stündchen der alten Uhrmacherin hat geschlagen, und es wird einen weiteren Tod nach sich ziehen. In einer in die Gedärme fahrenden Videoeinspielung drischt Albert (Lucas Gregorowicz) wieder und wieder auf den Schädel der Frau (Sona MacDonald) ein, und mit jedem Hieb sprenkeln ihn ein paar Spritzer Blut mehr. Die Gründe sind klein, die Folgen tragisch: Eineinhalb Stunden später wird er eine andere Frau ertränken – in einem Wasserbecken, in das es zuvor aus dem Inneren eines Hauses hineingeregnet hat. Ja, Ödön von Horvaths Stück Die Unbekannte aus der Seine erlebt im Volkstheater gerade eine visuell spannende Neuauflage. Bei der man aber nicht jeden Regie-Einfall – gleich oder auch später – nachvollziehen kann.

Die "Komödie in drei Akten" (!) basiert nämlich auf einer Toten, die anno 1900 aus der Seine gefischt ach so schön gelächelt haben soll, dass der Arztgehilfe im Leichenschauhaus nicht anders konnte, als einen Gipsabdruck ihres Gesichts zu nehmen. Der verzückte prompt auch die Massen, die Totenmaske wurde zum trendigen Dekorobjekt an Wänden und an Hauseingängen. Nicht nur von Horvath (1934) wurde das rätselhaft gebliebene Schicksal zudem literarisch angepackt.

Es könnte so einfach sein

Im Volkstheater hat Volker Hintermeier nun im spitzen Winkel ein Haus auf die ganz schwarz gefärbte Bühne gestellt. Im oberen Stock wohnt die Uhrmacherin, unten betreibt Irene (Evi Kehrstephan) ihren Blumenladen. Sogar die Stechpalme davor ist düster. Wir befinden uns zeitlich noch vor dem Mord an der Uhrmacherin. Kürzlich hat Irene sich von Albert getrennt, jetzt ist sie mit Ernst (Christoph Schüchner) zusammen. Dass der Kerl im schicken Anzug ebenso nicht das Gelbe vom Ei ist, dessen ist man sich spätestens sicher, als er sie "Maus" nennt. Und der Bevormunder hat nicht nur Rat für sie. Weil es Ernsts Besitzerinstinkt nicht passt, dass Albert Irene noch nicht aufgeben will, legt er ihm eiskalt einen Revolver vor die Füße.

Es könnte nun alles so einfach sein. Horvath hat Die Unbekannte aus der Seine nicht so aufwendig instrumentiert wie seine viel berühmteren Stücke. Zügig läuft es also auf das finale Unglück zu: Ernst wird mitbekommen, dass Albert der Mörder der Uhrmacherin ist, und ihn damit zu erpressen versuchen. Auf Alberts Seite schlägt sich allerdings Birgit Unterweger als Unbekannte. Von seiner Schuld ungerührt bietet sie Albert mit berechnender Mastermind-Energie im Tausch für eine Zukunft zu zweit ein Alibi, so einsam und verloren ist sie. Als sie erkennen muss, dass Albert seine eigene Verlorenheit à la longue aber lieber mit Irene kurieren will als mit ihr, stürzt sie sich im Originaltext lieber in die Fluten, als zu riskieren, den Kerl aus enttäuschter Liebe einst doch noch zu verraten.

2024 ist das für Regisseurin Anna Bergmann aber – aus nachvollziehbaren Gründen – ein unbefriedigender Zustand. Mehr noch, muss er jedem als ein untragbarer erscheinen! Aus dem Suizid wird in Bergmanns Inszenierung deshalb ein Femizid. Diese Verschiebung dauert (unter dem gelüfteten Haus, das ein karges Interieur, das Alberts Unterschlupf anzeigt, und nach einer intensiven Szene der beiden) nur Sekunden, macht aber einen kolossalen Unterschied für die Aussage des Abends.

Mehr und weniger fruchtbar

Es ist der schlüssigste von vielen Eingriffen in den Stoff. Um die titelgebende, aber de facto zur Nebenrolle (ein verbreitetes Frauenschicksal in der Kunst) verdammte Unbekannte aufzuwerten, legt ihr Bergmann in Videosequenzen Textschnipsel von Christine Lavant, einer der großen leidenden Autorinnen des vorigen Jahrhunderts, in den Mund. Das lässt sich aus Publikumssicht aber schon weniger fruchtbar deuten.

Ein Schicksal, das eine Flut von Regie-Einfällen teilt, die alle entweder im Gag-Stadium stecken bleiben (Nick Romeo Reimann als queerer Bräutigam) oder einen ratlos machen: Warum die Meerjungfrau (Uwe Schmieder) im Rollstuhl? Warum die Bunny-Ohren der Zimmerwirtin beim Putzen? Musicalhafte Zitate aus Dvořáks Rusalka oder ein in einer "fernen, aber nicht allzu fernen Zukunft" liegendes Vorspiel, in dem sich wie Wackelpudding bewegende Schergen im Pixelsturm zum Gesang eines Kinderchors (Rising Voices) brutal umgehen, türmen zwei Stunden Rätsel auf Rätsel. Das spricht nicht gegen den stark akklamierten Abend. Wenig kann man aber so gewiss sagen, als dass er sehr formbewusst ist. Das lässt sich ungeachtet der Fragezeichen schätzen. (Michael Wurmitzer, 25.3.2024)