Zwei Teile einer Bombe liegen zum Abtransport in einer Holzkiste, die mit Kies ausgekleidet ist.
Bergung einer Weltkriegsbombe aus der Donau in Budapest. Viele dürften den Sprengstoff Amatol enthalten, der mit den Jahren sensibler auf Stöße reagiert.
IMAGO/MTI/Xinhua/Peter Lakatos

Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg sind bis heute eine schlummernde Gefahr: Schätzungsweise zehn bis 15 Prozent der etwa 1,5 Millionen Tonnen Bomben, die die Alliierten über dem Gebiet des Deutschen Reichs abwarfen, detonierten nicht und könnten sich bis heute unter uns befinden. Mitunter müssen zehntausende Menschen zur Entschärfung evakuiert werden. Selbst aus dem Ersten Weltkrieg werden noch explosive Stoffe gefunden.

Zuständig ist in Österreich neben privaten Unternehmen auch der Entminungsdienst des Bundesheers. Jährlich ist er etwa 1.000-mal im Einsatz. Allein im Jahr 2023 machte er mehr als 50 Tonnen Kriegsmaterial unschädlich, das aus der Zeit vor 1955 stammte. Manche Überreste explodieren aber, bevor Sprengstoffexperten dazukommen können: Im August detonierte in Tirol eine Fliegerbombe infolge von starken Regenfällen, die den Erdboden in Bewegung versetzt hatten.

Manche nehmen an, dass alte Minen, Granaten und Co, die noch nicht explodiert sind, mit der Zeit weniger empfindlich werden. Doch das ist ein Aberglaube, sagt der Chemiker Thomas Klapötke von der Ludwig-Maximilians-Universität München auf STANDARD-Nachfrage. Klapötke ist Sprengstoffforscher – oder, allgemeiner, Fachmann für die Chemie von hochenergetischen Materialien. Zwei norwegische Kollegen vom Verteidigungsforschungsinstitut in Kjeller haben nun im Fachjournal "Royal Society Open Science" eine Studie veröffentlicht, die dies unterstreicht.

Füllpulver aus Kunstdünger

In mehreren Experimenten fanden Geir Novik und Dennis Christensen heraus, dass nichtdetonierte Munition aus dem Zweiten Weltkrieg mit zunehmendem Alter sensibler auf Stöße reagieren dürfte. Wenn man sie also fallen ließe, könnte sie explodieren – anders als bisher angenommen.

Massive, angerostete Fliegerbombe, angeschnallt auf einem Gefährt zum Abtransport
Vor rund einem Jahr wurde im deutschen Freiburg im Breisgau eine 500 Kilogramm schwere Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft und beseitigt.
APA/dpa/Silas Stein

Konkret ging es dabei um den Sprengstoff Amatol, der auch als "Füllpulver" bezeichnet wurde. Um beim teureren TNT zu sparen, wurde gestreckt: Der Name Amatol setzt sich zusammen aus "Ammonium" und "Toluol", man kombinierte TNT (Trinitrotoluol) mit dem als Kunstdünger bekannten Ammoniumnitrat. Aber auch dieser Stoff kann quasi als Sprengstoff gelten: Der nicht an der Studie beteiligte Klapötke hielt in einer anderen Publikation fest: Ammoniumnitrat ist nicht explosionsgefährlich, aber unter bestimmten Umständen explosionsfähig.

Für ihre Experimente nutzten die Forscher fünf Amatolproben. Sie stammten aus in Norwegen entdeckten Bomben und Granaten, die noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammten und die nicht explodiert waren. Aus unterschiedlichen Höhen wurden Gewichte auf die kleinen Proben geworfen, um ihre Explosionsfähigkeit zu testen. Sie stellten sich allesamt als empfindlicher heraus, als man dies für den Sprengstoff erwartet hätte. Eine der Proben war viermal so sensibel wie gedacht.

Gründe für den Alterungsprozess

Den Tests zufolge kann man relativ sicher mit Amatol hantieren, wird Geir Novik im "New Scientist" zitiert, aber nicht so gut wie mit TNT: "Im Gegensatz zu TNT kann es auf jeden Fall explodieren, wenn es fallen gelassen wird."

Weshalb die Bomben mit dem Alter sensibler werden und schneller hochgehen könnten, ist unklar. Dies will Novik als Nächstes herausfinden. Er vermutet, dass die Chemikalie empfindliche Metallsalze oder Kristalle ausbildet, weil sie mit der Metallhülle reagieren.

Schwarzweißfoto einer Explosion auf einem Feld
Eine Landmine explodiert während des Ersten Weltkriegs. Noch heute werden Altlasten entdeckt, die entschärft oder unter sicheren Bedingungen ausgelöst werden müssen.
imago/United Archives

Das hält auch der deutsche Chemiker Klapötke für möglich. Darüber hinaus sei es möglich, dass sich die Verbindungen langsam zu anderen Produkten zersetzen, die empfindlicher sind als die beiden Ausgangsstoffe Ammoniumnitrat und TNT.

"Sparmaterialien" im Einsatz in der Ukraine

Man weiß nicht, wie viele Blindgänger Amatol enthalten dürften. Novik entdeckte den Stoff aber im Großteil der nichtexplodierten Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg, die er untersuchte. Für die Studie entnahm er Sprengstoff von 20 Bomben, von denen fünf das "Füllpulver" enthielten.

2022 zeigte Novik außerdem Risiken anderer beliebter Sprengstoffe auf. TNT und PETN (Nitropenta) büßten demnach auch in Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht an Sprengkraft ein. Das bestätigen auch Fachleute wie Robert Mollitor vom Munitionsbergungsdienst Mecklenburg-Vorpommern in Deutschland. Auch er schätzt die "Sparmaterialien", die vor allem gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verwendet wurden, als problematischer ein als das stabilere TNT, denn sie seien "nicht auf eine lange Dauer angelegt" gewesen.

Dabei ist Amatol kein Sprengstoff, der nur den Kriegen der Vergangenheit angehört: Auch im Krieg in der Ukraine kommt Munition mit Amatol teilweise zum Einsatz. "Es ist bekannt, dass mehrere Munitionstypen, die derzeit in der Ukraine verwendet werden, aus der Ära der Sowjetunion stammen und Amatol enthalten", sagt Novik.

Für ihn und sein Team sorgt das Studienergebnis jedenfalls dafür, dass sie anders mit nichtdetonierten Kampfmitteln (fachsprachlich "UXO", also "unexploded ordnance") umgehen werden. Sie haben vor, in Zukunft nur noch kleine Mengen gleichzeitig abzutransportieren. Das Risiko ungeplanter Detonationen steigt zudem mit vermehrten Extremereignissen: Durch Starkregen, aber auch durch Waldbrände können Zünder der Munition ausgelöst werden. (Julia Sica, 29.3.2024)