Der Poseidon dient wohl als Zweit- oder gar Drittschlagwaffe und soll den Westen einschüchtern. An der tatsächlichen Leistungsfähigkeit dieser Waffe gibt es aber erhebliche Zweifel.
Russisches Verteidigungsministerium

Das russische Staatsfernsehen ist fast schon in Ekstase. Der Grund ist eine russische Unterwasserdrohne, die sämtliche britischen Inseln "in den Tiefen des Meeres versenken" und in eine "radioaktive Wüste" verwandeln soll. Moderator Dmitri Kisseljow fällt offenbar nicht auf, dass sich nukleares Ödland und Meeresgrund gegenseitig ausschließen, aber das ist nicht einmal der größte Widerspruch, wenn es um die russische Vergeltungswaffe Poseidon geht.

500 Meter soll der Tsunami hoch sein, der durch die 100 Megatonnen Sprengkraft des Atomtorpedos ausgelöst wird. Selbst was die Todeswelle überlebt, stirbt anschließend an der Strahlung. Furchterregend, diese Endzeit, wie sie sich das russische Staatsfernsehen ausmalt. Doch wie schreibt Jill Hruby, ehemalige Leiterin eines US-Atomwaffenlabors, so schön in einer Studie der "Nuclear Threat Initiative" zu Putins Superwaffen? "Generell übertreiben russische Regierungsquellen die Fähigkeiten ihrer Waffensysteme und geben unrealistisch kurze Zeitpläne."

Die Geschichte von der Superwaffe

Bei der Poseidon getauften Unterwasserdrohne dürfte das nicht anders sein. Die ersten Berichte über den Supertorpedo erschienen bereits im Oktober 2015. Damals filmte das russische Staatsfernsehen in einem Bericht über ein Treffen zwischen Putin und seinen Generälen "versehentlich" eine Präsentationsfolie mit einer mysteriösen Waffe namens Status-6 ab.

Auf der Folie waren die Pläne eines supergeheimen Torpedos zu sehen, der sich in einer Tiefe von 1.000 Metern an den Feind heranpirscht und dort Marinestützpunkte oder wichtige Wirtschaftshäfen auslöscht und gleichzeitig Zonen radioaktiver Verseuchung geschaffen werden, womit das betroffene Gebiet für lange Zeit unbenutzbar wird. Die russischen Staatsmedien waren in Aufruhr, die Nato unter Schock, der Westen zitterte. Und so weiter.

Bei der unabhängigen "Nowaja gaseta" war man eher gespielt erstaunt: "Stellen Sie sich das einmal persönlich vor: Das geheime Dokument wurde zur besten Sendezeit im russischen Fernsehen veröffentlicht. Angeblich aus Versehen. Was nun? Hat man den Kameramann fristlos entlassen?"

Technische Downgrades

Natürlich war der Leak gewollt, so wie die anderen, die noch folgen sollten. Sie alle sollten ein Bild von einer russischen Vergeltungswaffe zeichnen, die Europas Inseln und Küsten vernichten sollte. Doch der wahre Stand der Technik dürfte eher der Einschätzung von Hruby entsprechend eine Übertreibung sein. Der in einer Onlineabstimmung Poseidon getaufte Torpedo oder die "Unterwasserdrohne" soll mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h in einer Tiefe von bis zu 1.000 Metern völlig immun gegen Abwehrmaßnahmen sein. Seine Reichweite wurde, wie schon beim Atommarschflugkörper Burewestnik auch, zuerst mit "unendlich" angegeben.

Später wurde die Reichweite mit immer noch beeindruckenden 10.000 Kilometern genannt, dürfte aber laut der Einschätzung der Atomwaffenexpertin eher bei 5.000 Kilometern liegen. Aber das war nicht das einzige technische Downgrade, das im Lauf der Zeit passierte: Aus den 200 km/h Geschwindigkeit wurden plötzlich 110 km/h, was ziemlich genau jedem herkömmlichen Torpedo mit Elektroantrieb entspricht. Auch die Zerstörungskraft von 100 Megatonnen TNT wurde auf zwei reduziert. Das ist immer noch eine enorme Sprengkraft und immer noch genug, um jedes anvisierte Ziel zu zerstören. Zum Vergleich: Jene Bombe, die über Hiroshima abgeworfen wurde, hatte eine Sprengkraft von etwa 16 Kilotonnen.

Taub, blind und führerlos

Aber wozu diese Sprengkraft? Um einen feindlichen Flugzeugträger zu versenken oder um eine Hafenanlage zu zerstören, reicht auch deutlich weniger aus, um einen Tsunami mit nennenswerter Zerstörungskraft auszulösen, bräuchte es deutlich mehr. Der Verdacht liegt nahe, dass hier versucht wird, mangelnde Genauigkeit des Torpedos durch größere Sprengwirkung auszugleichen. Denn einmal losgeschickt, ist der Poseidon taub und blind und kann lediglich einer vorprogrammierten Route folgen. Gegen bewegliche Ziele wie eben einen Flugzeugträger wäre der Poseidon somit unwirksam. Deshalb wird er im Westen auch gemeinhin als Vergeltungswaffe eingestuft, die erst im zweiten oder dritten atomaren Schlag zum Einsatz kommt.

Dazu kommt, dass der Torpedo Hindernissen unter Wasser wohl kaum ausweichen kann und womöglich schon von einem Felsen unter Wasser gestoppt wird, wie die "Nowaja gaseta" berichtete. Dort bezeichnet man den Poseidon deshalb auch als "rhetorische Waffe". Eine Einschätzung, die übrigens auch Ina Holst-Pedersen Kvam, Forscherin an der Norwegischen Marine-Akademie, gegenüber "The Barents Observer" teilt. Der Poseidon sei eine psychologische Waffe. "U-Boote, die diese Drohnen mit sich führen, haben wahrscheinlich die Aufgabe, die Torpedodrohnen gegen hochrangige Ziele abzuschießen, nachdem ein großangelegter konventioneller oder nuklearer Krieg bereits entschieden ist, um die Küstenstädte des Gegners zu zerstören, unabhängig davon, wer gewinnt", so die norwegische Expertin für russische strategische Abschreckungsstrategien und Marinedoktrinen.

Ein Test mit scharfer Munition werde dann wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem die potenzielle Abschreckungswirkung am dringendsten benötigt werde, so die Forscherin.

Verzögerungen am laufenden Band

Ist der Poseidon also schon einsatzbereit? Nach Angaben der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass wurden im Jahr 2023 Dummy-Versionen, sogenannte Mockups, des Poseidon-Torpedos in verschiedenen Tiefen abgefeuert. Als Träger diente mit der Belgorod das längste U-Boot der Welt. Der finale Träger der Poseidon soll aber das "Projekt-09851-Boot Chabarowsk" sein. Das erste Boot dieser Klasse hätte eigentlich schon 2020 vom Stapel laufen sollen, doch auch dieser Zeitplan hielt nicht. Angeblich soll der Poseidon 2027 einsatzfähig sein, aber selbst daran zweifelt die norwegische Expertin. Sie geht davon aus, dass der angebliche nukleare Supertorpedo erst sehr viel später tatsächlich einsatzbereit ist.

Dass Russland auf den Propaganda- und Einschüchterungseffekt von Waffensystemen setzt, die in Wahrheit nicht einsatzfähig sind, ist nicht neu. Schon der T-14-Superpanzer entpuppte sich zuerst als Propagandamaschine, mittlerweile wurde die Produktion eingestellt. Wegen der Absturzgefahr wurde der Wundermarschflugkörper Burewestnik von der Nato ein wenig spöttisch "Skyfall" getauft. Auch die als Wunderwaffe gepriesene Hyperschallrakete Kinschal erwies sich bislang als eine Enttäuschung. (Peter Zellinger, 1.4.2024)