Daniel Kahneman.
Daniel Kahneman schuf in den 1970er-Jahren die Grundlagen der Verhaltensökonomie und machte sie später populär.
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Für die oft gescholtenen Wirtschaftswissenschaften war es die ultimative Kränkung: Die beiden Männer, die im späten 20. Jahrhundert eine der größten intellektuellen Revolutionen auf ihrem Gebiet ausgelöst haben, waren nicht Ökonomen, sondern Psychologen.

Mit einer Serie von Experimenten, Hypothesen und wissenschaftlichen Artikeln stellten Amos Tversky und Daniel Kahneman die Ökonomie auf den Kopf, indem sie das Bild des rational denkenden Homo oeconomicus zerstörten. Die von den beiden Israelis begründete Verhaltensökonomie zwang klassische Volkswirte, zahlreiche Annahmen über die Gültigkeit ihrer Theorien zu hinterfragen.

Wirtschaftsnobelpreisträger

Tversky starb bereits 1996 mit 59 Jahren an Krebs. Deshalb war es Kahneman, der 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt und die gemeinsam erarbeiteten Erkenntnisse verbreitete. Am Mittwoch ist er mit 90 Jahren gestorben.

"Prospect Theory" nannten Kahneman und Tversky ihre seit den 1970er-Jahren entwickelte Theorie, die davon ausgeht, dass Menschen materielle Vor- und Nachteile, Wahrscheinlichkeiten und Risiken nicht einheitlich und schlüssig einschätzen. Verluste wiegen demnach meist schwerer als gleich große Gewinne, weshalb der subjektive Wert einer Sache steigt, sobald man sie besitzt. Risikoaversion und Endowment-Effekt sind heute allgemein akzeptiert, waren aber einst revolutionär.

Weitere Erkenntnisse, die die beiden kognitiven Psychologen aus ihren Experimenten, oft mit Studierenden, gewannen, waren etwa die Tendenz zur Selbstüberschätzung, die Neigung, eigene Schätzungen an verfügbare Informationen anzupassen, die mit der Sache wenig oder nichts zu tun haben, sowie der Herdeninstinkt, der eine Erklärung für die Bildung von spekulativen Blasen in Finanzmärkten bietet.

Bestsellerautor

Mit seinem Bestseller "Schnelles Denken, langsames Denken" aus dem Jahr 2011 machte Kahneman, der den Großteil seines Lebens in den USA verbrachte und im kalifornischen Berkeley und in Princeton unterrichtete, die Verhaltensökonomie auch bei einer breiten Öffentlichkeit populär. Die unzähligen gedanklichen Fehlleistungen, die er darin mit leichter Feder beschreibt, sind heute Teil eines weltweiten Anekdotenschatzes.

Richard Thaler, der 2017 ebenfalls den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, entwickelte viele dieser Modelle weiter. Nach und nach hielt die Verhaltensökonomie in den Universitäten Einzug und fand immer mehr Anhänger. Zu den bekanntesten österreichischen Vertretern zählen Ernst Fehr an der Universität Zürich und Martin Kocher, einst Professor in München und nunmehr Arbeits- und Wirtschaftsminister in Wien.

Verhaltensökonomische Modelle kommen bei der Entwicklung wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen zum Einsatz, etwa durch das Nudging, das Menschen ohne Zwang zu für sie vorteilhaftem Verhalten motivieren soll.

Vorhersehbare Fehlleistungen

Die Innovation von Kahneman und Tversky für die Volkswirtschaften war nicht das Wissen, dass Menschen irrational handeln können – das war schon vorher bekannt –, sondern die Erkenntnis, dass diese Irrationalität nicht zufällig ist und sich in der Masse dadurch ausgleicht, sondern fixen Mustern folgt. Solche vorhersehbaren Fehlleistungen setzen so manche ökonomischen Gesetze, die bis dahin als ehern galten, außer Kraft, vor allem in den Finanzmärkten und bei individuellen Anlageentscheidungen.

Allerdings stößt die Verhaltensökonomie immer wieder an gewisse Grenzen. Zahlreiche Experimente mit besonders überraschenden Ergebnissen ließen sich später nicht wiederholen und dürften daher wenig Aussagekraft besitzen. Und die in kapitalismuskritischen Kreisen oft geäußerte Meinung, die Verhaltensökonomie sei der Beleg dafür, dass Märkte grundsätzlich nicht funktionieren, wird von den meisten Vertretern dieser Zunft nicht geteilt.

Die von Kahneman und Tversky einst beschriebenen Fehlleistungen stellen zumeist Ausnahmen im menschlichen Denken dar. Im Grunde denken und handeln Menschen immer noch rational, sonst gäbe es die Menschheit nicht. Bloß kann man sich nicht darauf verlassen. (Eric Frey, 29.3.2024)