Wie konnte das passieren? Wie konnte Recep Tayyip Erdoğan nach 22 Jahren an der Macht gegen die ewigen Verlierer von der sozialdemokratischen CHP plötzlich selbst verlieren? Mit spürbarem Entsetzen wird diese Frage nun in den regierungsnahen Medien der Türkei ventiliert.

Ahmet Hakan, einst einer der bekanntesten unabhängigen Journalisten und mittlerweile zu einem der vielen Propagandisten der Regierung geworden, schiebt die Schuld auf die wirtschaftliche Lage und den Zustand der Partei. Erdoğan selbst sei natürlich schuldlos an der Niederlage.

Der Anfang vom Ende des Recep Tayyip Erdoğan? Die Kommunalwahlen waren eine herbe Niederlage für den machtbewussten Präsidenten.
EPA/ERDEM SAHIN

Dass die wirtschaftliche Lage die entscheidende Rolle gespielt hat und insbesondere die Pensionisten und Pensionistinnen wegen der niedrigen Pensionen erbost sind und die Opposition gewählt haben, gehört bei allen regierungsnahen Experten zu den häufigsten Antworten auf die Frage nach der Niederlage. Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2023 waren die älteren Türkinnen und Türken noch eine sichere Bank für den Langzeitstaatschef gewesen.

Allerdings kann das nicht wirklich überraschen. Erdoğan hat bis zur Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr viel Geld unter seinen potenziellen Wählern und Wählerinnen verteilt und durch die Politik des billigen Geldes auch Kreditkosten für Unternehmen niedrig gehalten. Die Konsequenz war die exorbitante Inflation, die offiziell bei rund 50 Prozent lag, tatsächlich – zumindest bei Lebensmitteln – aber weit über 100 Prozent betrug.

Es war klar, dass diese Politik nicht mehr so weitergehen konnte, weshalb Erdoğan auch nach seinem Sieg im Mai 2023 ein neues Wirtschaftsteam in seiner Regierung installierte und den früheren Finanzminister Mehmet Şimşek ins Amt zurückholte.

Spiel mit (zu) viel Risiko

Şimşek, ein Investmentbanker, der in den USA gearbeitet hatte, tat, was alle westlichen Zentralbanken taten: Er ließ die Leitzinsen kräftig anheben – von acht Prozent bei der Wahl im Mai 2023 auf mittlerweile 50 Prozent. Bevor diese Zinserhöhungen Wirkung zeigen konnten, wurde erst einmal alles noch teurer, was insbesondere die Kernwählerschaft der AKP traf.

Erdoğan versicherte noch in der Wahlnacht, diese Politik werde in der zweiten Hälfte des Jahres erste Erfolge zeitigen, die Inflation werde sinken – bei den Wahlen am Sonntag hat die Teuerung aber noch voll zugeschlagen. Finanzminister Şimşek bekräftigte noch am Montag, die Politik zur Senkung der Inflation werde fortgesetzt, was innerhalb der AKP angesichts der Folgen freilich umstritten sein dürfte.

Die Auswahl bei den türkischen Kommunalwahlen war groß – und immer weniger Wählerinnen und Wähler landeten bei der AKP.
AP/Emrah Gurel

Dass die Regierungsmedien sich nun auf die Partei einschießen, bedeutet vor allem, dass sich niemand traut, Erdoğan persönlich anzugehen. Dabei geschieht in der Partei nichts, was nicht zuvor von ihm persönlich gebilligt wurde. Das ist ein Teil ihres Problems. Alles ist so stark auf den großen Anführer zugeschnitten, dass sich jenseits von Erdoğan niemand mehr profilieren kann und die Kandidaten der AKP entsprechend blass aussahen.

Murat Kurum, der AKP-Kandidat, der in Istanbul gegen den bekannten und beliebten Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu antreten musste, wurde von Erdoğan persönlich ausgesucht und anschließend im Wahlkampf in die Ecke gestellt. Kurum kommt nicht aus Istanbul, kennt sich in der Stadt überhaupt nicht aus und wurde wegen seiner Fehler, die er deshalb machte, im Netz weidlich verspottet.

Ursachenanalyse

Das Beispiel Istanbul hat aber auch gezeigt, dass nicht nur die AKP als Partei ein Problem hat, sondern auch die ehemalige Strahlkraft Erdoğans dies jetzt nicht mehr ausgleichen kann. Die Folge davon war, dass die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den Kommunalwahlen vor fünf Jahren um neun Prozentpunkte zurückging und viele AKP-Wählerinnen und -Wähler, die nicht gleich die Opposition wählen wollten, zu Hause blieben.

Im Gegensatz zu der stagnierenden AKP hat die CHP aus der Niederlage im vergangenen Jahr gelernt und sich erneuert. Im Herbst wurde eine jüngere Parteiführung gewählt, der neue Vorsitzende Özgür Özel vermochte die Partei zu motivieren. Außerdem wurde die Beteiligung von Frauen unterstützt – mit der Folge, dass in vielen Städten Frauen antraten und wesentlich zum Erfolg der CHP beitrugen.

Erstmals seit langem durften sich die Anhängerinnen und Anhänger der Opposition über einen Sieg freuen.
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Der wahrscheinlich wichtigste Grund für die AKP-Niederlage ist aber die neue Konkurrenz aus dem religiös-konservativen Lager, die Yeniden-Refah-Partei. Sie ist die Wiederauferstehung der alten Refah-Partei des legendären türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan. Erdoğan ist selbst in der alten Refah groß geworden, er verdankt Erbakan seinen Aufstieg, hat aber die Refah durch die Gründung der AKP 2001 in die Bedeutungslosigkeit getrieben.

Konkurrenz der Islamisten

Jetzt hat der Sohn, Fatih Erbakan, die neue Refah gegründet und greift Erdoğan dort an, wo es ihm meisten wehtut. Nach gut 20 Jahre an der Macht ist die AKP übersättigt, alle ihre führenden Kader haben sich bereichert, leben im Luxus und sind für überzeugte Islamisten nur noch ein korrupter Haufen.

Und: Dass Erdoğans Regierung trotz aller verbalen Kritik an Israel und trotz des täglichen Horrors in Gaza weiter mit Israel Geschäfte macht, hat den Islamisten der Yeniden Refah weiteren Auftrieb gegeben. In Şanlıurfa und Yozgat, zwei besonders konservativ-islamischen Großstädten, hat die Yeniden Refah gewonnen und die AKP abgehängt. Insgesamt wurde die Refah landesweit bereits drittstärkste Kraft. Ein weiterer Aufstieg der neuen Refah ist absehbar. Ein Kommentator auf X schrieb dazu prophetisch: "Der Alte (Necmettin Erbakan) hat ihn (Erdoğan) auf den Thron gebracht, der Junge (Fatih Erbakan) wird ihn herunterstoßen." (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 2.4.2024)