Die Wiener Neugründung des Moskauer Szenelokals Delicatessen hat eine Bar (links Chefkeeper Robert Sonko Kozoka) – und ein Restaurant.
Gerhard Wasserbauer

Wien ist, wieder einmal, voller Exilanten. Ob die vielen Russen, die das Sprachbild der Goldenen Quartiere zu bestimmen scheinen, allesamt exilierte Kämpfer für den demokratischen Wandel in der Heimat sind? Sagen wir so: Wären sie Korruptionsgünstlinge, hätten sie sich Österreich kaum zufällig ausgesucht.

Bei Ivan Shishkin, der vor bald 15 Jahren mit ein paar Freunden das legendäre Bar-Restaurant Delicatessen in einem Moskauer Hinterhof eröffnete, weiß man hingegen, dass er schon 2014, nach Putins Überfall auf die Krim, in die Ukraine emi­grierte und dort unter anderem eine Kochschule aufgebaut hat. Das Delicatessen war damals einer der Kristallisationspunkte des Aufbruchs in der Moskauer ­Lokalszene. Vor mehr als sechs Jahren ­beschlossen die Gründer, es an freiheitsmäßig weniger bedrohter Stelle neu zu gründen. "Wir haben uns Wien ausgesucht, weil es die östlichste der westlichen Hauptstädte ist", sagt Shishkin, "oder auch umgekehrt. Irgendwie dachten wir, dass der Geist unseres Lokals hier am ehesten auf ein verwandtes Umfeld treffen könnte." Das Lokal ist seit langem fertig, allein die örtlichen Bestimmungen, die Mäander der Bürokratie wurden in ihrer Unbiegsamkeit offenbar unterschätzt. Shishkin lebt mittlerweile hauptsächlich in Hamburg, ein anderer Mitbegründer in Katalonien, wieder einer in Darmstadt. Das "Deli" in Wien ist einstweilen (?) ein ferngesteuertes Unternehmen, die legendär energiegeladene, stets den Tanz am Abgrund zelebrierende Atmosphäre des Moskauer Originals will in Wien einstweilen nicht über die Rampe kommen.

Pferdetartare, garniert mit Olivenöl, Salz und rohen Enokipilzen
Gerhard Wasserbauer

Die Köche stammen aus der Ukraine und Südafrika, der Barkeeper aus dem Robertos. Das Interieur, mit offener Küche, viel Rot und weißen Fliesen sowie allerhand Blumentapeten, verströmt derweil noch dezidiert unbelebten, exotischen Charme. Die Cocktails sind brav, gern auf der süßen Seite. Die Speisekarte hingegen zeigt Mut zur Individualität. Gebratene Zwiebelringe mit in Leinöl gerösteten ­Samen sind ein erfrischend individueller Dip zum Brot. Pferdetartare erweist sich als köstlich reduziertes Carne cruda, mit nichts als Olivenöl, Salz und rohen Enokipilzen garniert – richtig gut. Auch die in der Schale knusprig gebratenen Erdäpfel mit Gorgonzola und extrem rauchigem Lardo machen effektiv Lust auf das nächste Bier. Knusprig gebratenes Kalbshirn mit flüssigem Dotter und Saiblingskaviar ist eine nette Idee, in Summe fehlt da aber Frische, Knack, ein saurer Kon­trapunkt.

Pommes in Dotterbutter

Pommes frites mit Dotter-Buttersauce zum tunken
Gerhard Wasserbauer

Viel besser: Die frittierte Rote Rübe, außen knusprig, innen schmelzig süß, auf richtig guter, saurer Mayo mit Limette und ­Koriander. Hausgemachte Pommes, die in Buttersauce mit rohem Dotter getunkt werden, leiden hingegen abermals an mangelnder Frische und Kontrast. Manches, wie das "Steak von der Mai­rübe", begeistert durch tolles Konsistenzspiel, die darübergestreuten Partikel von (gefriergetrockneter?) Ume-Pflaume haben aber nicht die erforderliche Würzkraft, um den Teller über die Distanz zu bringen. Pasta al Limone hat eine dezent an Dessert gemahnende Zitronigkeit, die hausgemachte Pasta ist zwar bissfest – aber leider auch klumpig. Eigentlich wäre es ein gutes Zeichen, wenn Wien zum Fluchtpunkt widerständiger Moskauer Restaurantlegenden wird. So richtig super wird es aber wohl erst, wenn die Wirte sich auch tatsächlich hinter ihr Lokal klemmen. (Severin Corti, 5.4.2024)

Frittierte Rote Rüben auf Limetten-Mayonnaise mit Koriander
Gerhard Wasserbauer
Steaks von der Mairübe mit Umeboshi
Gerhard Wasserbauer
Hirn gebacken mit Saiblingskaviar und flüssigem Dotter
Gerhard Wasserbauer