Beim Felber am Reumannplatz sitzt ein bekannter Sachbuchautor und Kolumnist gemütlich in der frühen Nachmittagssonne, nach dem Salzstangerl mit Butter hat er sich gerade noch einen Krapfen bestellt und sogar bekommen. Gerüchte, wonach es hier nur noch Baklava gäbe, sind also falsch. Richtig hingegen ist: Dönerbuden gibt es in der Gegend schon ein paar.

ALLES DA! Shopinhaber Goran verkauft hier von Blumenerde über Nippes bis zu Spielzeug wirklich ... alles.
Christian Fischer

Hier lässt es sich aushalten an diesem ansonsten eiskalten Märztag, auch wenn drüben beim Eissalon Tichy wieder einmal die vom Privatfernsehen herumstehen und fragen, ob man sich in der Gegend "überhaupt noch sicher fühlt". Am Vortag wurde nämlich – wieder einmal – ein Passant mit einem Messer verletzt, und jetzt gilt es, Quote zu machen und "die Zuständ’" hier zu beschreiben: Favoriten – Wild South! Mit ein bisschen Boulevardfantasie könnten sie sogar das Schlafende Pferd, das hier seit letztem Sommer herumliegt, als von einfallenden Horden hingemeuchelt beschreiben. Es ist aber aus Bronze und nur ein Kunstwerk.

"Multikulti, da passt alles!"

"Hier ist es leiwand!", sagt der Buchautor, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er ist längst wieder hierher in die alte Vier-Zimmer-Gemeindewohnung zurückgezogen, in der er aufwuchs. "Vier kleine Zimmer!", präzisiert er, damit man sich keine falsche Vorstellung von so einer Zehnter-Bezirk-Gemeindewohnung macht. Während er seinen Krapfen mampft, gehen wir die Favoritenstraße stadteinwärts und treffen auf Jürgen, der 15 Jahre lang zwischen Reumannplatz und Raxstraße ebenfalls in einer Gemeindewohnung – in der seiner Großeltern – und dann zusammen mit seiner Freundin noch einmal fünf Jahre woanders im Bezirk gelebt hat. Beinahe jeden Tag ist er damals über die Favoritenstraße zu Fuß in die Arbeit gegangen, und er muss sagen: "Facettenreich ist es hier! Freizeit, Einkauf, Multikulti – da passt alles!"

Jürgen hat 20 Jahre in Favoriten gelebt, mittlerweile ist er nach Niederösterreich gezogen. Die Liebe zum Hieb ist geblieben: "Facettenreich ist es hier! Freizeit, Einkauf, Multikulti!" Wer einen Tag lang die Favoritenstraße rauf- und runterläuft, muss sagen: stimmt.
Christian Fischer

Fürs Nachtleben freilich musste er in die Stadt hineinfahren, wenn er nicht ins "Nachtwerk" gehen wollte, aber Nachtbus beziehungsweise Nacht-U-Bahn brachten ihn damals schon verlässlich wieder hierher zurück, bevor er endgültig nach Niederösterreich hinauszog. Favoriten allerdings, sagt er, liege immer noch tief in seinem Herzen, mit Ausnahme der Veilchen vielleicht, die er als eingefleischter Rapidler nicht wirklich leiden kann. In die Schmähgesänge der seinen hätte er neulich aber natürlich niemals mit eingestimmt.

Lachend verabschieden wir uns in Richtung Annuschkas Blumenladen, wo die Annuschka aber gerade in der Mittagspause ist und uns die Mittagspausenvertretung nicht verraten kann, welch edler Blume der Bezirk gleichen würde. Einer Rose vielleicht, die wunderschön, aber eben auch stachelig ist? Vor der aktuell angesagtesten Dönerbude des Bezirks warten fünf Freunde aus Frankfurt, die auf Schulwoche in Wien sind. Favoriten sagt ihnen nichts, aber dem Ferhat Döner eilt sein guter Ruf sogar bis in die Hessenmetropole hinauf voraus, sodass ihnen ein Besuch hier im prallen Leben wichtiger war als in der Gruft der toten Habsburger.

Warteschlange bis zum Döner

Die Schlange davor, weiß Nassim aus dem benachbarten "Atombody", reicht oft bis vor seine Auslage, was der Fitness der Favoritener nicht wirklich zuträglich ist. Tatsächlich sieht man zahlreiche Bauarbeiterdekolletés bei den vielen Männern, die hier (den ganzen Tag?) irgendwo herumsitzen (und nichts tun?), während ein Mistkübler mit seinem Kärcher einen Mistkübel reinigt, vor den jemand fehlerfrei "FUCK FPÖ" auf den Asphalt gemalt hat. Auf höchstens 20 Prozent schätzt Nassim den Anteil jener Einheimischen, die ernsthaft an Fitness interessiert wären, der Rest isst Döner.

Die Freunde aus Frankfurt machen Wien-Woche, ein Weg führt sie zum berühmten Ferhat Döner.
Christian Fischer

Wenn der superfitte Ali, der uns vor dem 1100-Columbus-Einkaufszentrum über den Weg läuft, aus dem Zwanzigsten, wo er wohnt, hier herziehen würde, dann hätte die Fitnessgruppe einen Vertreter mehr. Er ist als 15-Jähriger allein aus Syrien über das Mittelmeer gereist und hat die letzten drei Jahre als Flüchtling in Kärnten verbracht, wo er in Klagenfurt seinen Pflichtschulabschluss nachholte. Das stählt Körper und Geist, und in seinem Fall bildete es sogar eine Frohnatur aus. "Griaßdi!" und "Pfiatdi!" kann er auf Kärntnerisch sagen, ansonsten aber hat der Dialekt keinen nachhaltigen Schaden in seinem perfekten Deutsch angerichtet. "Für alle, die anpacken", plakatiert die ÖVP auch in der Favoritner. Ali jedenfalls packt an in der neuen Heimat – und bringt dabei eine Lebensfreude mit, die hier nicht jedem sofort ins Gesicht geschrieben ist.

Ali wohnt eigentlich im 20. Bezirk, seit er aus Syrien nach Kärnten geflohen und weiter nach Wien gezogen ist.
Christian Fischer

Wo sind die Frauen geblieben?

Seine ebenfalls gutgelaunte Cousine ist eine der wenigen jungen Frauen, die wir an diesem frühen Nachmittag hier sehen, und langsam fragen wir uns: Wo sind denn die ganzen Favoritener Mädels? Arbeiten die alle, während viele Männer einfach auf den Bänken herumlungern, oder sind sie in der Schule? Sind es der Ramadan oder die Fastenzeit, die sie zu Hause bleiben lassen, oder trauen sie sich tatsächlich nicht mehr auf die Straße?

Ein Kunde vor dem "Alles da"-Geschäft zeichnet ein düsteres Bild der Gegend: "Da oben ist Istanbul", sagt er mit nicht geringer Verachtung, während er die Grenze an der Quellenstraße verortet, da "hinauf" würde er als gebürtiger Kroate nicht mehr gehen. Dann weiß er von einem Geschäft zu berichten, in das zwei 15-Jährige gleich fünfmal eingebrochen hätten, bevor die Kieberer sie endlich schnappten. Und warum sich hier neben einer Dönerbude die nächste ansiedeln darf und neben einem Goldgeschäft ein weiteres, versteht er auch nicht: "Wie soll man da überleben?", stellt er eine sehr vernünftige Frage, während Shopinhaber Goran, der "im wunderschönen Burgenland" lebt, hier im Schatten weder Gold noch Döner, sondern zehn Liter Blumenerde für 3,50 und drei Knollen Hyazinthen für 4,99 verkauft. Er freut sich auf den Sommer, wenn die schattige Lage seines Geschäfts von Vorteil und vielleicht sogar ein Frequenzbringer sein wird – hier "am Balkan", wo noch nicht "Istanbul" ist, sagt er lachend.

Sabine und Mutter Rosemarie trinken ihren Prosecco beim Prokes, Letztere wohnt seit 72 Jahren im Bezirk.
Christian Fischer

Kein Gold für die Hochzeit

Tatsächlich ist es schwer zu sagen, ob es hier mehr Goldgeschäfte oder Dönerbuden gibt, verkaufen aber tut sich der Döner – jedenfalls bei den Platzhirschen – zurzeit deutlich besser als das Gold. So sagt man uns jedenfalls in den beiden Goldgeschäften, die wir besuchen und die bis auf das jeweils schlechtgelaunte Personal leer sind: Wegen des hohen Goldpreises könne sich nämlich niemand mehr den 14-Karat-Schmuck, der hier für Hochzeitsgeschenke Standard wäre, leisten. Da will man sich gar nicht vorstellen, welche Branche hier eröffnen würde, wenn die Goldgeschäfte erst einmal alle zusperren müssten.

Gassi gehen auf der Favoritenstraße.
Christian Fischer

Neben dem Sandkünstler, der auf der Straße liegend einen Hund geformt hat und dafür um Geld bittet, lehnt eine sehr angetrunkene Dame mit sehr traurigen Augen, und das sieht man hier halt auch dauernd: Bettler, Sandler und Trankler, die beispielsweise vor dem seit langem geschlossenen Punschstandl stehen und sich mit Dosenbier ansaufen. "Es ist alles gut, wenn du Geld hast", sagte der vor dem "Alles da"-Geschäft dann noch, "und nichts, wenn du keines hast. Aber das ist ja überall so." Und vielleicht beschreibt das die Probleme hier (und überall sonst auf der Welt) besser als all das alarmistische Geschreibsel des Boulevards: dass so wenige alles haben und der überwältigend große Rest im Vergleich dazu nichts.

Den vier von den Zeugen Jehovas, die gleich daneben stehen, ist aber auch das wurscht, denn sie wissen ja, dass die Welt sowieso bald untergehen wird. Davor schenken sie uns noch ein Lächeln, als wir uns nähern – das ihnen aber gefriert, als wir sie fragen, wie gut der Favoritener denn auf das Ende vorbereitet sei. Ebenso angewidert zischt uns eine vorbeigehende Frau mit Handy am Ohr "Lügenpresse!" zu.

Schwarzes Kameel vom 10. Hieb

Nach diesen Feindseligkeiten wollen wir Fröhlichkeit und Gastfreundschaft, also ziehen wir weiter zum Victor-Adler-Markt. Das ist der wahrscheinlich schönste, lässigste und zurückgelehnteste Markt in ganz Wien, und beim Prokes, so etwas wie dem Schwarzen Kameel des zehnten Bezirks, lässt es sich sogar besser sitzen als dort in der Innenstadt, weil die Laufkundschaft hier oftmals sympathischer ist. Beispiel? Sabine trinkt mit ihrer 81-jährigen Mutter Rosemarie Nachmittagsprosecco. Letztere kam mit neun Jahren in die Erlachstraße, wo die Mama Hausbesorgerin war. Von dort zog sie in die Rotenhofgasse, dann in die Dampfgasse, und nun wohnt sie seit 30 Jahren in der Inzersdorfer Straße, das sind 72 Jahre Favoriten.

"Mir hat der Bezirk immer gefallen, und am Bauermarkt kann man sehr gut einkaufen!", schwärmt sie. Und auch gegen Kopftücher und Ausländer, versichert sie, habe sie wirklich nix: "Nur ein bisserl benehmen müssten die sich halt und anpassen" – und sich nicht mit aus der Hose gezogenen Gürteln und den Schnallen dran auf die Schädeln dreschen, wie das, wie man uns ein paarmal versichert, hier öfter der Fall sei. Dann stoßen sie auf Rosemaries erstes Urenkerl an, das im Juni zur Welt kommen und hier das Radl weiter drehen wird so wie der Ali auch, denn Favoriten: Das waren immer "die" und "wir", und es war immer "Alles da".

Als wir uns in Richtung Hauptbahnhof verabschieden, bauen gerade zwei Scientologinnen ihren Stand auf mit den Lehren des L. Ron Hubbard in – kein Witz! – 50 Sprachen. Und vielleicht kann man diesmal sogar von denen etwas lernen: dass man den Menschen hier schon ein Angebot machen muss, wenn man möchte, dass sie sich nicht nur geduldet fühlen sollen, sondern auch teilhaben dürfen. (Manfred Rebhandl, 6.4.2024)