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Absolut "dritter Ort"-tauglich, ein Café zum regelmäßigen Entspannen oder Plaudern.
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Mein Großvater ist gelernter Glaser. Lange Jahre betrieb er seine eigene Galerie und gab Kunstwerken den passenden Rahmen. Heute ist er weit über neunzig Jahre alt, seit Jahrzehnten im Ruhestand und lebt in einer Seniorenresidenz. Doch jeden Nachmittag streift er ein Sakko über, nimmt seinen Rollator und geht bedächtig dieselbe Strecke. Sein Ziel ist eine kleine ­Galerie, hinter deren Schaufenster schon ein Stuhl für ihn bereitsteht. Hier sitzt mein Großvater, streichelt den Hund der Galeristin und gibt ihr Ratschläge zu dem Handwerk, das sie beide teilen. Er hat etwas, das oft übersehen wird und doch wichtig ist: einen "dritten Ort".

Ende der Achtzigerjahre veröffentlichte der US-amerikanische Stadtsoziologe Ray Oldenburg ein Buch mit dem Titel The Great Good Place. Darin stellte er eine simple These auf: Die meisten Menschen verbringen ihr Leben an zwei Orten – ihrem Zuhause und ihrem Arbeitsplatz. Das Zuhause ist unser "erster Ort", an dem wir uns fallenlassen können, aber auch von einer größeren Gemeinschaft isoliert sind. Am Arbeitsplatz, dem "zweiten Ort", verbringen wir einen Großteil unserer Zeit. Welche Aufgaben wir erledigen, wie wir unseren Tag ein­teilen und welche Menschen uns dabei umgeben, können wir uns aber selten aussuchen. Wer sein Leben nur zwischen Arbeit und Wohnort aufteilt, spürt: Hier fehlt etwas.

Entspannen und austauschen

Das ist der "dritte Ort". Es ist ein Platz, an dem wir uns entspannen, austauschen und mit anderen in Gemeinschaft treten können. Hier müssen keine Probleme gelöst oder Anforderungen erfüllt werden: Wir können einfach sein. Und so unterschiedlich, wie wir sind, können auch unsere Orte sein: Das Schachbrett, um das sich jeden Mittwochnachmittag dieselbe Herrenrunde versammelt. Der Basketballkäfig im Park. Der Friseursalon, den wöchentlich dieselbe Kundschaft besucht, oder die Bibliothek, in der sich der Buchklub trifft. Das Lieblingslokal, in dem man fast schon zur Einrichtung zählt, oder ein Kaffeehaus, in dem man bereits mit seiner üblichen Bestellung empfangen wird.

Am "dritten Ort" müssen keine Probleme gelöst oder Anforderungen erfüllt werden: Wir können einfach sein.
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Während der Pandemie, als ich noch in einer anderen Stadt wohnte, war mein dritter Ort ein kleines Café. Über Monate war es wegen der Corona-Regeln nicht erlaubt, sich dort hinzusetzen. Aber über Monate spazierte ich in jeder Mittagspause die wenigen Hundert Meter ins Café und mit einem Latte macchiato zurück.

Und das Schöne an Menschen ist, dass wir beginnen, einander zu mögen, wenn wir einander oft genug sehen – und uns dabei zumindest mit Freundlichkeit begegnen. Die Verkäuferin und ich gewöhnten uns aneinander. Aus einer zehnsekündigen Transaktion jeden Mittag wurde über die ­Monate ein immer längeres Gespräch. Irgendwann musste ich zurückhasten, um meine Pause nicht zu überziehen.

Als die Regeln gelockert wurden und ich zum ersten Mal unter dem kleinen Feigenbaum im Gastgarten sitzen konnte, stellte ich fest, dass wir ein­ander kannten. Wir nannten uns beim Namen. Sie kannte meine Bestellung und meinen Beruf, ich ihre Tochter und ihre Leidenschaft für ihren Garten. Hatte es gestürmt, konnte ich mich nach ihren Pflanzen erkundigen. Schien die Sonne, fragte ich sie, was gerade blühte. Ich verbrachte viele Stunden unter dem Feigenbaum, mit Freundinnen, mit einem Buch oder einem Laptop, aber immer mit einem Latte macchiato.

Ich kannte die Menschen, die dort arbeiteten, und die Menschen aus meiner Nachbarschaft, deren Routinen sie zu ähnlichen Zeiten ins Café führten. Wir grüßten uns, und irgendwann begannen wir, uns auch in der Warteschlange zu unterhalten. Dann zog ich weg. Als ich Monate später wieder zu Besuch kam, sah mich die Verkäuferin durch die Glasscheibe des Cafés kommen, lief hinter der Theke hervor und nahm mich in den Arm.

Immunsystem gegen Einsamkeit

Unser soziales Netz funktioniert wie ein Immunsystem gegen Langeweile und Einsamkeit. Je breiter es gespannt ist, je mehr Knotenpunkte es hat, desto mehr trägt es uns. Fällt dann einer unserer anderen Orte weg, weil wir unsere Stelle verlieren, in Pension gehen oder umziehen müssen, hält es trotzdem. Mein Großvater hat keinen Arbeitsplatz mehr, aber dennoch jeden Tag einen Grund, das Haus zu verlassen. Und als bei mir in der Pandemie Zuhause und Arbeitsplatz verschmolzen, hatte ich immer noch das Café.

Dritter Ort Der Standard Beisl Kaffeehaus Gym Museum
Der „dritte Ort“ kann vieles sein. Vor allem aber soll er uns einfach „sein lassen“, ohne Druck und Regeln.
Tobias Burger

Andere Fachleute haben aus Ray Oldenburgs Buch acht Kriterien abgeleitet, denen der dritte Ort entsprechen sollte. Er soll "neutraler Boden" sein - jeder kann, niemand muss sich dort aufhalten. Un­terschiede im gesellschaftlichen Status oder Einkommen spielen wenig bis gar keine Rolle mehr, sobald man über die Schwelle tritt. Stattdessen geht es um das Gespräch und die spontane Gemeinschaft, die zwischen den Menschen dort entsteht. Der Ort soll allen offenstehen und einladend statt elitär sein. Er hat Stammgäste, die ihm seinen Charakter verleihen. Und, wohl am wichtigsten, er soll sich anfühlen wie ein zweites Zuhause.

Es gibt viele Plätze, die die psychologischen Funktionen eines dritten Orts erfüllen. Doch allen Kriterien entsprechen nur wenige von ihnen. Wirklich konsumfreie Räume, an denen das Einkommen keine Rolle spielt, verschwinden zunehmend aus den Städten. Doch der dritte Ort muss nicht zwingend in der echten Welt verankert sein. Auch Foren oder Onlinegruppen können viele seiner Funktionen erfüllen. Das Wichtigste am dritten Ort ist, dass wir ihn haben.

Nach meinem Umzug fand ich ein neues Café. Es liegt an einer U-Bahn-Station, meist ist die Schlange lang und die Menschen kurz angebunden. Inmitten dieses Kommens und Gehens hole ich seither meinen Pausenkaffee. Auch letzte Woche. Da schaute der Barista plötzlich hinter der Sieb­trägermaschine hervor und sagte zur Begrüßung: "Latte macchiato?" (Ricarda Opis, 11.4.2024)