Die Angriffe können über die verschiedensten Plattformen kommen, egal ob Social Media oder diverse Games.
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Mehr als jeder vierte Jugendliche in Österreich zwischen elf und 18 Jahren musste schon einmal sexuelle Belästigung oder Gewalt online erleben. 25 Prozent davon wurden bereits mit intimen Fragen belästigt. Jeder Fünfte erhielt intime Fotos, die er oder sie nicht sehen wollte.

Diese Zahlen sind alarmierend. Oder, besser gesagt, waren alarmierend. Sie sind nämlich von 2018 und wurden damals von SOS-Kinderdorf und Rat auf Draht in Form einer Studie veröffentlicht. "Sexuelle Belästigung und Gewalt im Internet in den Lebenswelten der Elf- bis 18-Jährigen" hieß die Studie damals. Aktuelle Zahlen zu dem Thema zu finden ist schwierig, weil es hierzulande keine so groß angelegte Studie zu dem Thema mehr gab.

Was man recherchieren und sich bestätigen lassen kann, ist, dass die Verweilzeit von Jugendlichen im Netz seitdem stark gestiegen ist und damit auch die Zahl der potenziellen Opfer von Triebtätern und organisierten Verbrecherbanden. Allein zum Thema Sextortion, der Erpressung mit Nacktbildern, gingen bei Rat auf Draht im Vorjahr über 300 Anfragen ein. Im Vergleich zu 2022 war das ein Anstieg um knapp 30 Prozent. Alarmierende Zahlen, über die man sprechen muss.

Erpressung mit Fotos

Auch heute klingelt das Telefon bei Rat auf Draht ununterbrochen. Gerade wurde bei der Servicestelle, die sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet, erneut ein Fall von Sextortion gemeldet. Wie viele andere dieser tragischen Ausformungen von Onlinegewalt ist auch Sextortion mit viel Scham behaftet, was es vielen Jugendlichen schwer macht, darüber zu sprechen. Sie müssen es aber tun, damit Menschen wie Birgit Satke, Leiterin der Notrufnummer 147 von Rat auf Draht, über die zunehmende Anzahl solcher Angriffe berichten kann.

An erster Stelle bei den Telefonberatungen steht derzeit Sextortion, sagt Satke. "In diesem Bereich verzeichneten wir 2023 eine Steigerung der Beratungen um fast 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Allein im ersten Quartal 2024 gab es bereits 101 Anfragen zu dieser Thematik." Die "Masche" der Erpresser, in der Regel gut organisierte Betrügerbanden, sei immer ähnlich. "Sie geben sich als Mädchen oder eine junge Frau aus, die Kontakt über Social Media aufnimmt und einen Chat beginnt", erklärt Satke.

Betroffen seien sowohl Mädchen und junge Frauen als auch Burschen und junge Männer. Schnell gehe das Gespräch in die "erotische Richtung", und es wird vorgeschlagen, sich gegenseitig Nacktbilder zu schicken oder sich in einem Videochat gegenseitig nackt zu zeigen. Viele Jugendliche gehen darauf ein, weil es aufregend ist und sie sich sicher fühlen, weil sich ja "beide Seiten intim zeigen". Schicken die Jugendlichen allerdings Nacktfotos von sich, werden diese gespeichert, es wird mitgefilmt, oder es werden Screenshots davon gemacht.

Dann zeigen die Täter ihr wahres Gesicht und fordern die Opfer dazu auf, innerhalb eines kurzen Zeitraums Geld zu überweisen, sonst würden die Fotos veröffentlicht werden. Neu ist laut Satke, dass seit ungefähr einem Jahr die Täter ihrer Drohung gleich zu Beginn Nachdruck verleihen und bereits direkt nach Bekanntgabe der Erpressung Bilder an eine oder mehrere Personen aus dem Bekanntenkreis der Betroffenen schicken, um zu zeigen, dass es ihnen ernst ist.

Plattformen für Erstkontakt

Eine andere Form, zu der die Zahlen zumindest bei Rat auf Draht zuletzt gesunken sind, ist Cybergrooming. Hier sind selten organisierte Banden die Täter, sondern meist männliche Erwachsene, die sich das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen erschleichen, um sie sexuell zu belästigen und/oder später zu missbrauchen. Das Muster sei dabei immer sehr ähnlich. Die Täter geben sich als Jugendliche oder junge Erwachsene aus und versuchen so, sich das Vertrauen des Kindes oder des Jugendlichen zu erschleichen. "Die Täter gehen dabei sehr geschickt vor, manche investieren sehr viel Zeit in diese Anbahnung", erklärt Satke.

Bei der Wahl der Plattformen sind die Täter nicht wählerisch. Das Annähern passiert über soziale Netzwerke, Chatrooms, Messenger wie Whatsapp oder auch in Onlinespielen – einfach überall, wo es eine Chatfunktion gibt. Bei Sextortion ist laut Satke vor allem die Plattform Snapchat Ort des Erstkontakts, und auch Tiktok wird immer öfter dazu genutzt. Das weiterführende Gespräch sowie die nachfolgende Erpressung würden dann auf Instagram oder Whatsapp stattfinden.

Aber wie wählen die Täter ihre Opfer aus? Oftmals wird im Vorfeld viel Zeit investiert, etwa um Profile zu durchsuchen, um so Interessen herauszufinden oder ein besseres Bild der Person zu bekommen, die ausgewählt wurde. Über viele Nachrichten bauen die Täter dann ein Vertrauensverhältnis auf und erfragen auf diesem Weg noch mehr Informationen, Telefonnummern und anderes. Erst wenn sich die Unbekannten sicher sind, dass mit dem jugendlichen Gegenüber eine Vertrauensbasis aufgebaut wurde, wird nach Fotos oder Videos gefragt.

Grooming-Chat
So wie dieser Chat könnte ein typischer Grooming-Chat aussehen.
saferinternet.at

Das richtige Verhalten

Erfährt man als Elternteil von solch einem Vorfall, rät die Expertin, Ruhe zu bewahren. "Vorwürfe, Überreaktion oder Schuldzuweisungen sind nicht förderlich", betont sie. Bei den meisten Kindern und Jugendlichen löse so ein Erpressungsversuch ohnehin große Scham und Ängste aus, weshalb man immer volle Unterstützung zusichern und sich vielmehr als Gesprächspartner für alle Befürchtungen und Sorgen zur Verfügung stellen solle. Wichtig sei auch, mit Kindern zu besprechen, wie sie sich künftig gegen solche Angriffe wehren und auf solche Nachrichten reagieren können. Es helfe etwa, wenn Kinder sehr klar und früh dem Gegenüber sagen, dass das Verhalten unangebracht oder sogar strafbar sei. Satke: "Für Täter sind selbstbewusste Kinder, die sich zur Wehr setzen, weniger reizvoll."

Ist man bereits an dem Punkt, dass Fotos oder Videos an die Unbekannten übermittelt wurden, rät die Expertin, trotzdem nicht die geforderte Summe zu bezahlen. Die Erfahrung habe gezeigt, dass das Bezahlen nicht vor der Veröffentlichung schützt. "Ganz im Gegenteil, es folgen danach weitere Forderungen, und die Erpressung endet nicht." Wichtig sei es, den Kontakt umgehend abzubrechen und Beweise zu sichern, etwa Screenshots vom Erpressungschat zu machen.

Wurden bereits Bilder oder Videos veröffentlicht, sollte man eine Anzeige bei der Polizei machen, da es sich bei den genannten Themen um einen klaren Straftatbestand handelt. Zudem sollte der Vorfall sofort bei der jeweiligen Plattform gemeldet werden. Anbieter von Online-Plattformen sind mit der Einführung des Digital Services Act (DSA) nämlich dazu verpflichtet, ein Melde- und Abhilfeverfahren einzurichten, mit dessen Hilfe Nutzerinnen und Nutzer rechtswidrige Inhalte melden können. Diese Gesetzgebungen drängen Meta, Bytedance und ähnliche Plattform-Halter zudem, sich stärker im Kampf gegen diese Machenschaften zu engagieren. So kündigte beispielsweise Meta erst vor wenigen Tagen an, KI-Software gegen sexuelle Erpressung von Minderjährigen einsetzen zu wollen. Nacktbilder, etwa auf Instagram, sollen auf diesem Weg automatisch erkannt und unkenntlich gemacht werden. Außerdem sollen die Urheber der Bilder Sicherheitstipps erhalten.

Satke nennt zudem zwei Onlinetools, die eine Veröffentlichung der Nacktbilder oder Videos auf bestimmen Plattformen verhindern können: "Take it down" sei speziell für Personen unter 18 Jahren gedacht und verhindere den Upload von intimen Bildern oder Videos auf den Plattformen Instagram, Tiktok, Facebook, Onlyfans, Pornhub & Co. "Stop Non-Consensual Intimate Image Sharing" ist hingegen für Personen ab 18 Jahren und verfolgt den gleichen Zweck. Zur Nutzung dieser Services müssen die Bilder und Videos aber noch irgendwo gespeichert sein. "Wenn man dieses Services nutzen will, wird ein digitaler Fingerabdruck von dem Foto oder Video auf dem Gerät erstellt und an den Dienst übermittelt, der es den Onlineplattformen ermöglicht, intime Bilder oder Videos zu identifizieren und eine Veröffentlichung zu verhindern", erklärt Satke. Die Bilder bleiben dabei auf dem Gerät des Users und werden selbst nicht hochgeladen. Eine Anleitung, wie das genau funktioniert, findet man hier.

GEFANGEN IM NETZ | Offizieller Trailer | Deutsch HD
Der Film "Gefangen im Netz" nahm sich der Gewalt gegen Kinder im Netz bereits 2020 an.
Filmwelt Verleih

Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung

Dass diese Gefahren im Netz zur traurigen Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen geworden sind, zeigt die Studie "Voice Project", initiiert von mehreren Kinderschutzorganisationen. Dort wurde kürzlich festgehalten, dass Kinder Gefährdungen und Missbrauch im Internet mittlerweile als "notwendiges Übel" wahrnehmen.

"Diese Normalisierung von Risiken muss für uns ein Signal sein, für uns Erwachsene und auch politische Institutionen", kommentierte Waltraud Gugerbauer, Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation Ecpat Österreich, die Studie. Bei der österreichischen Meldestelle Stopline habe es 2024 bisher über 7.000 Meldungen zu Thema sexueller Missbrauch von Kindern gegeben. Global wiederum habe die Internet Watch Foundation einen "noch nie da gewesenen Anstieg" von Websites gemeldet, die eine Manipulation von Kindern unter zehn Jahren zu sexuellen Handlungen zeigen. "Die Meldungen steigen jährlich, und nach wie vor haben wir keine wirksamen regulatorischen Schritte gesetzt", kritisiert Gugerbauer.

Der Leiter der externen Kommunikation bei Rat auf Draht, Oliver Bayer, sieht vor allem in der Aufklärung eine starke Waffe, mit der man Kinder und Jugendliche vor den Gefahren im Netz besser schützen kann. "Es gibt noch großen Bedarf, weil viele Kinder und Eltern über diese Gefahren noch zu wenig wissen", sagt er im Gespräch mit dem STANDARD. Wichtig sei, dass Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, dass sie sich in solchen Fällen jederzeit ihren Eltern oder Lehrerinnen anvertrauen können. Medienerziehung, sprich den Umgang mit Medien bereits vom frühen Kindesalter an zu beachten, kann ebenso sehr hilfreich sein, wie auch Sexualerziehung bereits ab dem Kleinkindalter, meint Bayer.

Je mehr Kinder darüber Bescheid wissen, umso besser können sie sich schützen und auch entsprechend reagieren. Dass die Übergriffe im Netz in Richtung der Kinder und Jugendlichen weniger werden oder gar aufhören, damit rechnet derzeit niemand. (Alexander Amon, 15.4.2024)