Eine Rotäugige Singzikade sitzt im Gras.
Ein Vertreter der periodischen Zikaden, die in Nordamerika heimisch sind. Dabei handelt es sich um mehrere Arten der Gattung Magicicada.
REUTERS/Cheney Orr

Das Zikadengeddon hat begonnen. So nennt John Cooley von der Universität Connecticut das seltene Naturspektakel, das dieser Tage in den USA begonnen hat. Dort leben sogenannte periodische Zikaden, die 13 oder 17 Jahre lang im Erdboden Baumsaft saugen, bevor sie ihren großen Auftritt haben. Eine Population wird als "Brut" bezeichnet, und in diesem Jahr kommen gleich zwei davon – Brut 13 und Brut 19 – quasi gleichzeitig ans Tageslicht. Die Zahl der Insekten könnte Fachleuten zufolge in die Billionen gehen oder sogar eine Billiarde erreichen. Das heißt: Hunderttausende Milliarden an rotäugigen Zikaden kommen aus dem Boden – so viele wie seit Jahrhunderten nicht.

"Das wird ein lauter, wilder Frühling", sagt Insektenexpertin Jessica Ware vom American Museum of Natural History in New York. Die Nymphen, also die Tiere im Jugendstadium, krabbeln empor, schälen sich aus ihrer Haut und werden zu Erwachsenen, die sich paaren wollen. Ein bis zwei Wochen nach ihrem Auftauchen beginnen die Männchen daher zu musizieren. Ihr Zirpen wird gemeinsam mitunter so laut wie ein Flugzeug – mehr als 100 Dezibel. Nach etwa sechs Wochen ist der Spuk vorbei, die Zikaden haben ihren Nachwuchs in Form von Eiern abgelegt und sterben.

Die Tiere, die den wohlklingenden Gattungsnamen Magicicada tragen, haben offenbar folgende evolutionäre Strategie: Wenn es viele von uns gibt, werden schon genug überleben – auch wenn wir groß, träge und knusprig sind. Vor allem diejenigen, die nicht von Vögeln, Reptilien und Säugern gefressen werden. Für sie steht in den 18 betroffenen US-Bundesstaaten ein Festmahl an – was zeigt, dass Zikaden ein wichtiger Teil der Nahrungskette sind, sagt Entomologin Ware.

Harmlose Invasion im Primzahlrhythmus

Der Höhepunkt dürfte Mitte Mai erreicht werden. Es gibt zwar kaum Regionen, in denen beide Bruten vorkommen, aber insgesamt tauchen in einem großen Teil des Landes zeitgleich viele Zikaden auf. Das letzte Mal, dass diese beiden Bruten gemeinsam aus der Erde kamen, fiel in das Jahr 1803. Erst für das Jahr 2076 wird ein noch größeres Zikaden-Zusammentreffen prognostiziert. Dass ihr Rhythmus auf 13 oder 17 Jahre angepasst ist, dürfte dem Zufall und der Genetik geschuldet sein – sowie der Tatsache, dass ihre Fressfeinde nicht so lange leben oder die eigenartigen Zyklen nicht vorhersehen können.

Noch ist unklar, wie es eine der insgesamt 15 Bruten schafft, sich zu koordinieren. Nötig ist eine Temperatur von mindestens 17,8 Grad Celsius. Aber manche Jungtiere stecken tiefer im Erdreich als andere, sie sind unterschiedlichen Temperaturen ausgesetzt. Forschende der Universität Cambridge in Großbritannien entwickelten ein mathematisches Modell, um dieses Rätsel zu lösen. Demnach kommt ein halbwegs synchrones Hervortreten der Zikaden nur dann zustande, wenn sie im Erdreich miteinander kommunizieren oder zumindest aufeinander reagieren. Fangen manche an, aktiv zu werden, treibt das andere an – so die Hypothese, die aber noch nicht biologisch getestet wurde.

Periodical Cicadas Overrun the Forest | Planet Earth | BBC Earth
Für andere Spezies werden die alle 17 Jahre auftretenden Zikaden zum seltenen Festmahl.
BBC Earth

Mancherorts wird man bald Unmengen an toten Tieren und zurückgelassenen Hüllen von der Einfahrt kehren. Hungrige Haustiere sollten aufgrund der Verstopfungsgefahr nicht zu viele Zikaden essen, und der Balzgesang der Insekten kann zur akustischen Belastung werden. Abgesehen davon sind Zikaden harmlos: Sie sind im Normalfall weder giftig, noch beißen oder stechen sie. Außer man ist eine Pflanze, dann kann man Zikaden durchaus als Vampire betrachten, die einem an den Saft wollen. Die landwirtschaftlichen Schäden dürften sich Fachleuten zufolge auch sehr in Grenzen halten; wer um besondere Pflanzen fürchtet, sollte diese mit speziellen Netzen schützen.

Zombiepilz provoziert bisexuelles Verhalten

Selbst als Zombies gehen manche Zikaden durch. Bis zu fünf Prozent werden von einem Pilz infiziert, der ebenfalls jahrelang mitschlummern kann. Überspitzt formuliert macht er sie zu hypersexuellen Zombiezikaden. Der weiße Pilz nimmt allmählich ein Drittel des Insektenkörpers ein und führt letztendlich zum Tod der Zikade. Vorher produziert er ein Amphetamin, das für ein gewisses Durchhaltevermögen trotz Pilzerkrankung sorgen dürfte.

Der Pilz bewirkt außerdem, dass das Individuum bisexuelles Verhalten an den Tag legt: Ein betroffenes Männchen versucht weiterhin, sich mit Weibchen zu paaren, obwohl ihm krankheitsbedingt bereits die Genitalien abgefallen sind. Es gibt sich aber auch als Weibchen aus, um andere Männchen anzulocken. Damit kann sich der Pilz als Geschlechtskrankheit besonders stark verbreiten. In Österreich dürfte er bislang nicht aufgetreten sein, was wenig verwunderlich ist, da viele Pilze speziell an ihre Wirtsart angepasst sind.

Könnte eine solche Zikadenwucht wie in den USA auch hierzulande auftreten? Nein, sagt Experte Gernot Kunz. Die 13- und 17-jährigen Arten kommen hierzulande nicht vor. Der Biologe forscht an der Universität Graz und dem Universalmuseum Joanneum, aber auch in Costa Rica, wo noch viele unbeschriebene Arten leben. Ihn faszinieren diese Insekten, weil sie praktisch überall vorkommen: "Ich kann jetzt hinausgehen und fünf bis zehn Zikadenarten auf der nächsten Wiese fangen – aber trotzdem kennt kaum jemand diese Gruppe." Ausnahme: die lautstarken Singzikaden. Zu dieser Familie gehören nicht nur jene Arten, die nun in den USA für Furore sorgen, sondern auch die Musikanten, die für den Soundtrack des Mittelmeerurlaubs sorgen.

Gemeine Singzikade, eine große, gräuliche Art mit transparenten Flügeln.
Viele Menschen in Europa kennen die Gemeine Singzikade – zumindest vom Hören.
Gernot Kunz

Paarungszeit und Sommerloch

In Österreich gibt es etwa 670 Zikadenarten. Die meisten leben maximal ein, zwei Jahre lang. In der Regel überwintern sie als Ei, manche auch als Larven oder erwachsene Tiere. "Jetzt ist die Zeit, in der einige Zikaden adult werden und auf Partnersuche gehen", sagt Kunz. Bei den meisten Arten fällt dies in den Mai und Juni. Jene, die eine zweite Generation pro Jahr haben, können im Herbst wieder beobachtet werden. Dazwischen gibt es ein "Sommerloch".

Ansicht von vorne: Rhododendronzikade mit gelb-schwarzem Kopf und grün-orangefarbenem Rücken.
Die grün-orange Rhododendronzikade kann manch einem Rhododendronstrauch zusetzen.
Gernot Kunz

Die heimischen Arten werden wenige Millimeter bis sechs Zentimeter lang, wobei die große und mediterran verbreitete Gemeine Singzikade in Österreich seit mehr als 100 Jahren nicht mehr nachgewiesen wurde. Die Männchen der Singzikaden sind die einzigen, die für Menschen hörbar sind: Sie bemerkt man an warmen, sonnigen Tagen teils aus 100 Meter Entfernung. Es gehört aber eine gewisse Übung dazu, um ihre Klänge von Heuschrecken wie dem Grünen Heupferd zu unterscheiden. Außerdem produzieren verschiedene Spezies unterschiedliche Geräusche. Andere Zikadenmännchen kommunizieren über Vibrationen, die für Weibchen auf der gleichen Pflanze spürbar sind.

Mit Heupferden und Grillen sind Zikaden übrigens nur sehr entfernt verwandt. Sie gehören nicht zur Ordnung der Heuschrecken, sondern zu den sogenannten Schnabelkerfen. Das bedeutet, sie sind viel näher mit Wanzen und Pflanzenläusen verwandt.

Rosarotes Insekt mit gelben Augen sitzt auf einem Halm.
Die rosafarbene Variante des Europäischen Laternenträgers ist äußerst selten.
Gernot Kunz

Ästhetische Arten und neue Namen

Wer nur die gigantischen Schwärme rotäugiger Singzikaden kennt, mag überrascht sein, wie attraktiv viele Spezies aussehen. In ihren bunten Farben erinnern sie Kunz an Korallenfische. Manche sind so angetan, dass sie den Arten Namen geben wie Binsenschmuckzikade oder Schöne Elfenzikade (beide in Österreich heimisch). Andere sind wie die Trollzirpe ebenfalls von Sagengestalten inspiriert oder sorgten wie die Sonderbare Zikade für Verwunderung. Skurriles Verhalten wie das scharfschützenartige Wegspritzen von Urin in rauen Mengen wurde ebenfalls dokumentiert.

Die kreative Benennung hat auch damit zu tun, dass viele Arten noch keinen deutschen Namen haben. "Ich kann mir aber einfach einen ausdenken und veröffentlichen", sagt der Biologe. Manchmal werden spektakulär klingende Namen gewählt, um die Tiere für die Öffentlichkeit interessanter zu machen. Ein Beispiel abseits der Zikaden ist die Nosferatuspinne, deren Muster an einen Vampirkopf erinnern soll: "Sie hat nichts mit Nosferatu zu tun, aber das klingt cool."

Die Leopardenblattzikade erinnert mit ihrem weiß-orangefarbenen und leicht bräunlichen Fleckenmuster entfernt an Leopardenmuster.
Zu den schmucken heimischen Exemplaren zählt auch die Leopardenblattzikade.
Gernot Kunz

Viele Zikaden sind wählerisch: Von 671 nachgewiesenen Zikadenarten in Österreich ist mehr als die Hälfte auf nur eine Pflanzenart oder -gattung spezialisiert. Daher können sie sich nicht so gut an sich verändernde Bedingungen anpassen, falls ihre Stammpflanze etwa klimakrisenbedingt wegfällt. Außerdem sorgen die starke Verbauung und die intensive Land- und Forstwirtschaft dafür, dass ihr Lebensraum zerstört wird.

Biodiversitätskrise

Zwar gab es schon immer Hitze, Nässe, Hagel und andere Extremereignisse, erklärt Kunz. Doch diese werden nicht nur immer häufiger und stärker, sie werden für isolierte Populationen zur tödlichen Gefahr. Waren die Tiere einst so verbreitet, dass einzelne Rückschläge kaum das Überleben bedrohten, so gibt es heute immer weniger Ausweichmöglichkeiten. "Deswegen werden wir auch in strengen Schutzgebieten Arten verlieren", sagt der Biologe. Laut der Roten Liste 2009 ist mehr als die Hälfte der Zikadenarten nah an der Gefährdungsgrenze oder bereits vom Aussterben bedroht. Eine aktuellere Auswertung ist in Arbeit.

Die hellbraune Schwertzikade mit sehr langem Kopf ist auf einem gleichfarbigen Stängel gut getarnt.
Die Schwertzikade ist in Österreich vom Aussterben bedroht. In den vergangenen Jahren wurde sie nur in der Nähe des Neusiedler Sees gesichtet, ist aber auch dort verschwunden – womöglich aufgrund zerstörerischer Unwetter und fehlender Ausbreitungsmöglichkeiten.
Gernot Kunz

Schon jetzt werden die schwarz-roten Blutzikaden in der Steiermark gesichtet. "Das ist verdammt früh für diese Familie, früher als vor 50 oder 100 Jahren", sagt Kunz. Wird es besonders früh warm, kann es sein, dass sie im Herbst nicht wie üblich im Larvenstadium sind, sondern bereits erwachsen. "In diesem Stadium können sie den Winter nicht überdauern." Außer wenn der Winter so warm und mild ist, dass die ausgewachsenen Zikaden ihn auch im Freien sitzend überleben. Wie sich das genau entwickelt, muss noch genauer erforscht werden. Der Biologie sieht in den langen Warm- und Vegetationszeiten aber für viele Arten ein "Problem, das auf uns zukommen wird".

Zumindest die kalten Apriltage zwischendurch dürften die meisten Tiere in tieferen Lagen überstanden haben, schätzt Kunz: "Sie verfügen über ein 'Frostschutzmittel' im Körper und können daher auch Temperaturen unter null Grad Celsius ohne Probleme ertragen."

Zikade mit rot-schwarzem Muster
Die Gemeine Blutzikade wird früher als sonst in der Steiermark beobachtet.
Gernot Kunz

Während seltene Spezies aussterben, haben sich laut Kunz 20 gebietsfremde Arten angesiedelt – und weitere 30 sind in den kommenden Jahren zu erwarten. Durch den Klimawandel ziehen neue Arten aus wärmeren Gebieten nach Österreich. Hinzu kommen eingeschleppte Arten. Das passiert vor allem über den Pflanzenhandel: Zikadeneier befinden sich in Erde und Stängeln importierter Pflanzen aus Ostasien und Nordamerika. "Es tauchen jedes Jahr total skurrile Nachweise von Arten auf, mit denen wir überhaupt nicht gerechnet hätten", sagt Kunz, etwa die ersten in Österreich aufgetretenen Bambuszikadenarten aus Asien.

Landwirtschaftliche Schäden durch Zikaden seien hingegen auch hier ein eher geringes Problem. Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit Ages nennt die Bläulingszikade und die Amerikanische Rebzikade als Schaderreger. Erstere breitet sich stark aus und kann bei massenhaftem Auftreten für weniger hübsches Obst und Pflanzen sorgen: Sie schaffen etwa durch den abgegebenen Honigtau Nährböden für Pilze, die aussehen, als hätte sich Ruß über das Blatt gelegt. Die Rebzikade überträgt mitunter Viren, Bakterien und Parasiten auf Weinreben.

Symphonie der Zikaden

Doch auch bei anderen Schäden standen Zikaden im Verdacht: Es wurde vermutet, dass das laute Surren von Zikaden oder Grillen das mysteriöse Havanna-Syndrom bei Geheimdienstmitarbeitern und Diplomatinnen verursacht. Was genau dahintersteckt, konnte bisher nicht geklärt werden.

Mit ihren "Schallattacken" sorgen die allmählich in Massen auftretenden Zikaden aktuell US-Bundesstaat North Carolina für verwirrte Anrufe bei der Polizei. Woher kommt der Lärm, der manche an Rasenmäher, Sirenen oder sogar weinende Kinder erinnert? Das Büro des Sheriffs in Newberry, das bei dieser Lärmbelästigung nicht helfen kann, reagiert trocken: "Leider sind das die Klänge der Natur." Entomologen wie Jim Louderman vom berühmten Field Museum in Chicago sprechen naturgemäß positiver über die "Symphonie der Zikaden". (Julia Sica, 28.4.2024)