Frau sitzt in einem fahrenden Zug am Fenster. Sie ist traurig und allein
Psychische Erkrankungen werden immer noch stigmatisiert. Die wenigsten Betroffenen erzählen ihren Angehörigen oder Bekannten davon.
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Die Welt steht kopf, plötzlich oder schleichend: Eine Freundin schickt wirre, kränkende Nachrichten, eine Arbeitskollegin zieht sich völlig zurück und reagiert kaum mehr, der Bruder glaubt, alle sind hinter ihm her, der Partner nimmt vor lauter Hochgefühl einen kaum zu stemmenden Kredit auf. Der Opa kennt sich nicht mehr aus. Manchmal wird es laut. Die Nachbarn regen sich auf – "Wieso habt ihr den nicht im Griff?", heißt es dann. Die Polizei steht vor der Tür und kann auch nicht helfen. Man verschweigt, versucht "das Problem" selbst zu lösen, schätzt die Situation falsch ein: Ist es Überarbeitung, ein Streit, einfach nur Kummer?

Die Diagnose einer psychischen Erkrankung kann Jahre dauern. "Jede einzelne betroffene Person inklusive ihrer Familien war einmal davon überrascht, dass es sie betrifft. Aber es kann von heute auf morgen jede Familie betreffen", sagt Bernhard Rappert, Fachbereichsleiter bei der Patientenanwaltschaft Vertretungsnetz.

Am Limit

Dabei sind psychische Erkrankungen keine seltenen Einzelfälle. Allein von Schizophrenie ist ein Prozent der Bevölkerung betroffen, also jede 100. Person. "39 Prozent der Menschen in Österreich waren in der Vergangenheit oder sind aktuell von einer psychischen Erkrankung betroffen", heißt es in einer Studie des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen vom Juni 2020, befragt wurden 1000 Personen zwischen 16 und 69 Jahren. "Nicht einmal drei Viertel der Befragten (63 Prozent) würden Familie/FreundInnen von einer psychischen Erkrankung erzählen, nur 21 Prozent ArbeitskollegInnen", steht da allerdings auch.

Auch die Angehörigen wollen nicht sprechen, man will Betroffene ja nicht "outen". Und noch immer gibt es Scham und Schuldgefühle in den betroffenen Familien. "Meine Eltern haben sich wenig mit der schizophrenen Erkrankung meines Bruders auseinandergesetzt und auch mit kaum jemandem darüber gesprochen. Die Scham war zu groß, dafür verurteilt zu werden, "schuld" zu sein", erzählt Rudi. "So haben sie keine Hilfe gesucht und auch nicht bekommen."

Ohne Filter

Martin Barth, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Pyhrn-Eisenwurzen-Klinikum Steyr, rät, in Kontakt zu bleiben. "Es ist immer gut, eine Vertrauensbasis zu haben. Wenn man das Krankheitsbild versteht, dann nimmt man nicht jedes Wort für bare Münze, das ein Patient in einer Psychose von sich gibt. Aber ja, ein schlechter Fuß wird sicher leichter toleriert wie die Fraktur in der Seele. Oft wird das nicht als Krankheit interpretiert, sondern nach dem Motto 'Reiß dich zamm'. Aber das ist nicht möglich, wenn dir dein Hirn falsche Informationen liefert."

Denn so fühlt sich eine Psychose an: "Verzerrte Bilder, akustische Halluzinationen, die Eindrücke, die man normalerweise filtern kann, kommen ohne Filter ins Gehirn. Man interpretiert oft Dinge falsch oder sieht Dinge, die gar nicht da sind." Hinzu kommt: "Auch das Krankenhaus oder die Behandlung an sich kann ja paranoid verarbeitet werden, dann sucht man dort keine Hilfe mehr." Die Wartezeiten für betreutes Wohnen, Tageseinrichtungen etc. sind lang, "das ganze System ist überlastet". Entweder entlässt man die Patientinnen früh und weiß, sie sind in wenigen Wochen wieder hier, oder sie verbringen ihre Tage im Spital, weil sie keinen Platz finden – und verlieren dort ihre Kompetenzen.

Dazu kommt der Facharztmangel: Die Psychiatrie ist seit vielen Jahren ein Mangelfach, so Barth. Es gibt keinen Nachwuchs, auch der Verdienst ist geringer, die Klassegebühren fallen weg. Was es braucht: Menschenkenntnis, Empathie. Die Aufnahmekriterien beim Studium sind jedoch eher technischer Natur. Und es ist auch eine Imagefrage: "In Amerika hat jeder Besserverdiener einen Psychotherapeuten, das gibt es bei uns nicht".

Mann in mittleren Jahren in einem Therapiecenter für mentale Gesundheit
Bei einer Psychose liefert das Hirn falsche Informationen. Die Eindrücke, die man normalerweise filtern kann, kommen ohne Filter ins Gehirn.
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Brigitte Heller ist Gründerin und Vorsitzende des Vereins Lichterkette. Heller selbst hat jahrelang Menschen mit psychischer Erkrankung zum Thema berufliche Reha beraten – bis sie selbst von einer schweren Erschöpfungsdepression im Zuge eines Burn-outs betroffen war und eine bipolare Störung diagnostiziert wurde. "Da habe ich gesehen, dass es österreichweit keine Betroffenenvertretung gibt. Aufgrund der Stigmatisierung, der negativen Zuschreibungen, ist es so schwierig, Menschen zu finden, die ihre Erkrankung offenlegen und sagen, ich bin oder war psychisch krank." Dabei sei genau das notwendig.

Ich bin nichts wert

Mehr Psychoedukation, mehr Information über Erkrankungen würden auch dem Umfeld Betroffener helfen. Viele hätten Angst, etwas falsch zu machen, und machen dann gar nichts. "Es gibt Formen von psychischen Erkrankungen, da kann ich eine gewisse Unterstützung bieten. Manchmal muss man sich auch damit abfinden, dass man nichts machen kann. Das ist für Angehörige schwer", sagt Heller. Sie spricht aus Erfahrung: "Ich habe das bei meiner Schwester erlebt. Ich habe alles versucht. Ich habe durch mein fachliches Wissen, durch meine Selbsterfahrung mit Depressionen sämtliche Kontakte, die ich gehabt habe, eingesetzt. Aber sie hat gesagt, sie braucht das nicht, sie ist gesund."

Auch Selbststigmatisierung ist ein wichtiges Thema: "Wer 100.000-mal gesagt bekommt, er sei blöd und könne nichts, glaubt das irgendwann selbst – zumal man schon durch die Erkrankung an Selbstzweifeln leidet." Denn eine psychische Erkrankung wird oft nicht als solche betrachtet, sondern als Schwäche. Betroffene fühlen sich teils von vornherein wertlos. Dabei beweisen Erkrankte, die Karriere und Beziehungsnetzwerk teils von null auf neu aufbauen müssen, auch enorme Stärke. "Dennoch gehören Menschen mit psychischer Erkrankung im System nirgends hin", sagt Heller. Das zeige sich etwa bei der Begutachtung der Pensionsversicherungsanstalt. Wenn jemand wegen körperlicher Gründe die Wohnung nicht verlassen kann, werde das anders beurteilt, als wenn es sich um eine Angsterkrankung handelt, findet sie. "Was würden Sie tun, wenn Sie als 101. Person mit einem gebrochenen Bein in ein Krankenhaus kommen würden – und man sagt Ihnen, das Kontingent sei ausgeschöpft? Unvorstellbar, oder?" Bei psychischen Erkrankungen passiere dies aber ständig, klagt Heller.

Freiheit versus Selbstbestimmung

Bernhard Rappert von der Patientenanwaltschaft Vertretungsnetz, die Patientinnen und Patienten vertritt, wenn sie auf die stationäre Psychiatrie kommen, wünscht sich mehr Zeit für die weitreichende Entscheidung, ob jemand wegen Selbst- oder Fremdgefährdung in seiner Freiheit eingeschränkt wird. Derzeit seien Diensthabende in der Psychiatrie oft zeitgleich für 60 Personen zuständig. "Fehlentscheidungen werden immer passieren, aber wir sollten diese Zukunftsprognose treffsicherer machen können", sagt der Patientenanwalt – in beide Richtungen.

"Meine Cousine hat die Ärztinnen davon überzeugt, dass alles mit ihr in Ordnung ist", erzählt Eva, die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. "Sie wurde nicht ärztlich zwangsbehandelt und lebt nun in einem Obdachlosenheim. Ich finde schon, dass sie sich damit gefährdet, aber meine Cousine selbst sieht das naturgemäß anders." Eva bleibt nichts anderes übrig, als auf eine Eskalation zu hoffen, die in einer Behandlung mündet. So furchtbar das für Außenstehende auch klingen mag.

Junge, nachdenkliche Frau schaut aus dem Fenster
Angehörige von psychisch Erkrankten brauchen einen Netzwerk, das sie bei Bedarf unterstützt. Dann muss man sich nicht immer alleine Sorgen machen.
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Es bräuchte dringend mehr Betreuung vor Ort, davon ist Patientenanwalt Rappert überzeugt. Er nennt das Beispiel der "Integrierten Versorgung Salzburg", hier werden Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen im häuslichen Umfeld behandelt. Seine Erfahrung: "Wenn man mit Erkrankten spricht und nicht nur über sie – und sie über Alternativen mitbestimmen können, dann funktioniert die Behandlung oft nachhaltiger." 26.000 Unterbringungen gibt es pro Jahr in Österreich, mit einer durchschnittlichen Dauer von zehn bis elf Tagen, erzählt er.

Hilfe für Angehörige

Edwin Ladinser ist seit 25 Jahren bei HPE Österreich im Einsatz. Die Organisation bietet Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter, es gibt Beratungsstellen, aber auch Online-Beratung und Selbsthilfegruppen. "Die Angehörigen spielen eine wichtige Rolle, weil sie meist das für Menschen mit psychischen Erkrankungen hochrelevante soziale Umfeld sind." Oft gehen sie über ihre Belastungsgrenzen. Der Austausch mit anderen und auch Adressen niederschwelliger Hilfsangebote helfen.

Was er den Angehörigen empfiehlt: einen Plan zu haben für den Moment, in dem Patientinnen von selbst sagen, "mir geht es nicht gut". Da nützt ein Termin auf der Psychiatrie drei Monate später eher wenig – aber Empfehlungen für eine Therapeutin oder eine Erstberatung. Ladinser betont: "Man kann als Angehöriger eine Erkrankung nicht vollkommen wettmachen oder ausgleichen." 50 Prozent der Menschen, die bei HPE Beratung suchen, leben mit dem erkrankten Familienmitglied im selben Haushalt, "da sind die Belastungen oft besonders arg, weil es massiv ins eigene Leben eingreift." Es herrscht keine Ruhe oder eben auch Chaos, auch die Finanzen sind ein Thema, weil oft die Angehörigen einspringen oder gar unterhaltspflichtig sind. "Wichtig ist, dass die Angehörigen, die Freunde, es schaffen, ein kompetentes Gegenüber für die Erkrankten zu bleiben, das auch Orientierung bietet." Dafür brauche es Unterstützung. Auch Ladinser wünscht sich "dringend psychosoziale Profis, die in Krisensituationen nach Hause kommen, auch wenn sie nur von Angehörigen informiert werden." Denn oft will der Patient selbst nichts davon wissen.

Manchmal hilft auch schon eine Whatsapp-Gruppe. Sam ist mit einer erkrankten Person befreundet, der engste Freundeskreis tauscht sich so aus. "Ich habe klar gesagt: Ich liebe dich und bin für dich da – auch wenn du das manchmal nicht willst. Damit ich dir helfen kann, brauche ich diese Gruppe. Das hat sie akzeptiert. Manchmal geht ihre Psychose so weit, dass sie glaubt, ich will ihr etwas Schlechtes. Dann muss ich einen Schritt zurück machen. Mit der Gruppe kann ich das gut, dann übernimmt eine andere Person. Und ich muss mich nicht permanent sorgen", sagt Sam. Den Erkrankten zu helfen, wie weit es einem möglich ist, und doch das eigene Leben leben zu können ist das – oft schwer zu erreichende – Ziel. (Irene Hauer, 13.4.2024)