Trotz oder womöglich auch wegen der Bauarbeiten ist die Notre Dame weiterhin eine der Attraktionen von Paris.
Trotz oder womöglich auch wegen der Bauarbeiten ist die Notre Dame weiterhin eine der Attraktionen von Paris.
REUTERS/Gonzalo Fuentes

Die Bauarbeiten an der Pariser Kathedrale sind derzeit ein eigentliches Spektakel: Auf dem Vorplatz wurde kürzlich sogar eine Tribüne erstellt, damit die Zaungäste und Touristen insbesondere die Bewegungen der fast hundert Meter hohen Hebekrane live mitverfolgen können. Den spitzen Dachreiter, der am 15. April 2019 zum allgemeinen Schrecken wie in Zeitlupe in das lodernde Flammenmeer gesunken war, haben sie im Februar wieder auf das Satteldach gesetzt. Jetzt verlegen sie das Bleidach. Davor hatten sie Balken aus 2000 Limousin-Eichen in das neue Gebälk der Basilika emporgehievt.

Auch die übrigen Zahlen sind beeindruckend: 1300 Kubikmeter Mauersteine ersetzt, 8000 Orgelrohre vom Ruß gereinigt, 130 Glasfenster in subtiler Handarbeit erneuert. Die Kosten werden durch die 840 Millionen Euro Spenden aus der ganzen Welt – gut die Hälfte von drei reichen französischen Familien – mehr als gedeckt. Präsident Emmanuel Macron hätte Notre-Dame am liebsten schon in diesem Sommer eingeweiht, rechtzeitig zu den olympischen Spielen in Paris. Das erwies sich als unmöglich. Die Wiederauferstehung ist nun für den 8. Dezember dieses Jahres angesagt. Dann soll der spirituelle Mittelpunkt der Lichterstadt, ihr Leuchtturm und ihre Seele, im Glanz der Erneuerung prächtiger denn je erstrahlen.

Aufklärung gefordert

Ende gut, alles gut? Didier Rykner, Herausgeber der "Tribune de l’art" und Autor des viel beachteten Buches "Notre-Dame, eine Staatsaffäre", ist nicht dieser Meinung. Der 62-jährige Kunsthistoriker mit der Aura eines jovialen Bonvivants will zuerst noch wissen, wie es zu dem Brand kommen konnte. Warum er das wissen will? "Damit eine solche Tragödie nicht mehr vorkommt", kommt seine Antwort wie geschossen. "Das setzt voraus, dass die Verantwortlichkeiten feststehen. Das ist seltsamerweise bis heute nicht der Fall."

Kunsthistoriker Didier Rykner vor der Notre Dame-Kathedrale.
Kunsthistoriker Didier Rykner vor der Notre Dame-Kathedrale.
Stefan Brändle

Rykner führt den STANDARD zur Südseite der Basilika, wo er auf die Sakristei zeigt. Dort habe das Malheur an jenem 15. Avril 2019 begonnen. "Laut behördlichem Reglement hätten rund um die Uhr zwei Feuerwehrleute präsent sein müssen. Beim Brandausbruch war keiner da", hat Rykner recherchiert. "Die Vertreter des Staates, dem die Kathedrale seit der Trennung von Kirche und Staat 1905 gehört, hatten als Ersatz zwei private Sicherheitsleute engagiert. Von denen war aber auch nur einer anwesend, und der war neu in Notre-Dame und an jenem Montag nach fast elf Stunden Dienst ohne Pause todmüde."

Verspätet Alarm geschlagen

Immerhin hörte dieser Wächter um 18.18 Uhr den Brandalarm. Ein Bildschirm nannte als Ort des Feuers "Dachstuhl/Kirchenschiff/Sakristei". Der Wachmann deutete dies fälschlicherweise als eine Brandmeldung im Dach der Sakristei. Er ging nachschauen: nichts. Zurück auf seinem Posten vernahm der Mann einige Minuten später einen zweiten Alarm. Jetzt ging er im Dachstuhl nachschauen – und entdeckte den Brand. Er rannte die Treppen hinunter und schlug Alarm. Um 18.51 Uhr schellte es bei der Feuerwehr.

"Diese halbe Stunde entschied darüber, dass das ganze Dachgebälk der Kathedrale bereits lichterloh brannte, als die Feuerwehr eintraf", erklärt Rykner. Zudem fehlte der Pariser Feuerwehr ein Hebearm mit solch einer Reichweite, um das Feuer im Dach aus der Höhe zu bekämpfen. "Das passende Löschfahrzeug mit dem Hebearm musste aus Schloss Versailles herbeigerufen werden und sich mitten in der Rush Hour durch zwanzig Kilometer verstopfte Straßen zwängen. Sein Löscheinsatz begann erst um 20.15 Uhr." Fast zwei Stunden nach dem Brandalarm.

Was den Brand ausgelöst hat? Rykner schließt Brandstiftung aus: "Auch die Verschwörungstheoretiker sind diesbezüglich rasch verstummt." Eine weggeworfene Zigarette? "Das entspricht nicht ganz dem Brandausbruch", denkt der Liebhaber alter Gemäuer nach mehrjährigen Nachforschungen. Plausibel scheint ihm ein Kurzschluss – zum Beispiel, weil abgestellte Glocken einen elektrischen Draht zerrieben, oder weil eine Metallsäge beim Entfernen von Statuen Funken schlug.

Vorwürfe gegen den Staat

"Wichtiger ist, dass der Hauptschuldige genannt wird, um eine Wiederholung des Brandes auszuschließen", sagt Rykner, der sich als leidenschaftlicher, wenn auch apolitischer Zeitgenosse bezeichnet. "Schuld ist der Staat, das heißt die Regierung, das Kulturministerium, die Agentur der historischen Monumente." Wegen ihnen seien keine Feuerwehrleute anwesend gewesen; wegen ihnen sei die überfällige Renovierung des hölzernen Dachstuhls verschleppt worden; und wegen ihnen habe es – auch während Bauarbeiten – an thermischen Kameras und automatischen Wasserdampfsprinklern gefehlt.

Notre Dame 2019 und 2024.
Fast fünf Jahre sind zwischen diesen beiden Bildern vergangen.
REUTERS/Staff

All dies beschreibt Rykner in seinem Ende 2023 erschienenen Buch. Die Behörden haben demnach nicht nur bei der Brandverhütung gefrevelt. "Schauen Sie, wie alt und fragil die Strebebögen sind, die den Zentralbau seit Jahrhunderten halten", fügt Rykner an und zeigt auf die äußeren Stützen des Kirchenschiffes. "Das alles lässt darauf schließen, dass die Kathedrale schlecht unterhalten war, dass zu stark gespart wurde und sogar die Renovierung ohne Brandsicherung auskommen mussten."

Der Kunsthistoriker betont, er wolle vor der baldigen Wiedereröffnung des Gotteshauses nicht den Miesmacher spielen. Der Wächter habe das Menschenmögliche getan, und die Pariser Feuerwehrmänner, die bei dem Brand mit ihren Schläuchen unter Lebensgefahr ins Kirchenschiff vorgedrungen seien, seien wahren Helden. Nur dank ihnen seien alle Kunstwerke gerettet worden.

Holande, Azoulay, Macron

Rykners Kritik trifft eher die Staatsspitze, und er scheut sich nicht, Namen zu nennen. Den von 2012 bis 2017 amtierenden Präsidenten François Hollande, den seiner Kulturministerin Audrey Azoulay und seines sparbewussten Wirtschaftsministers Macron, der später sein Nachfolger werden sollte. In seinem 260-seitigen Buch enthüllt Rykner, Azoulay habe eine besorgniserregende Studie über die Brandrisiken in Notre-Dame ignoriert. Dieser Bericht habe in erster Linie der Vorbeugung eines Terroranschlags gegolten, aber auch detailliert – und ungefragt – vor einem Feuer gewarnt.

Notre Dame 2019 und 2024.
Auch hier der Vergleich zwischen 2019 und 2024.
REUTERS/Staff

Rykners Fazit: "Der Brand von Notre-Dame ist alles, nur keine Überraschung. Er war vorhersehbar. Trotzdem wurde nichts unternommen, um dagegenzuhalten." Und die strafrechtliche Suche nach der Ursache komme nicht vom Fleck. "Der Staatsapparat hat kein Interesse, dass diese Frage geklärt wird – weil er wegen der Sicherheitsmängel selber an den Pranger käme", schätzt der Einzelkämpfer Rykner. "Und solange die Ermittlung nicht abgeschlossen ist, kann man auch keine parlamentarische Untersuchungskommission bilden."

Heute ist Rykner einer von wenigen, die restlose Aufklärung verlangen, damit solche Unglücke in Zukunft vermieden werden können. Frankreich verfügt über 186 Kathedralen, darunter gotische Kunstwerke wie etwa in Chartres, Straßburg oder Reims. Sein Buch hat Rykner für sie geschrieben, sagt er. "Und damit auch Notre-Dame nie mehr brennt." (Stefan Brändle aus Paris, 15.4.2024)