Rolf Kalb
Rolf Kalb verabschiedet sich als Eurosport-Kommentator.
Guido Hermann/Eurosport

Als Snookerfan kommt man nicht an Rolf Kalb vorbei. Er ist die Stimme des Sports, seit mehr als 20 Jahren kommentiert er für Eurosport die Weltmeisterschaft. Im Vorfeld der diesjährigen WM (20. April bis 6. Mai) kündigte der 64-Jährige an, dass es seine letzte ist. Er geht in den Ruhestand. In der Szene genießt Kalb Kultstatus, Snookerfans kennen seine Sprüche auswendig. Kalb nimmt sich in seinem Homeoffice in Gütersloh Zeit für ein Interview per Videoschaltung. Im Hintergrund sind zwei kleine Ukraine-Fahnen zu sehen, als Solidaritätsbekundung für das Land, das vor mehr als zwei Jahren von Russland überfallen wurde.

STANDARD: Wie häufig befassen Sie sich mit Snooker?

Rolf Kalb: An 363 Tagen im Jahr. Zu Weihnachten und Silvester lege ich eine Pause ein. Es wird ja ständig gespielt. Ich muss statistische Daten erfassen, Ergebnisse und Breaks. Nur dann habe ich das Futter, das ich brauche, um die langen Sendestrecken zu füllen. Das ist eine tägliche Arbeit.

STANDARD: Das klingt nach einem riesigen Archiv.

Kalb: Ich erstelle Formkurven und Ableitungen, kann immer nachschauen, wann jemand an welcher Position in der Weltrangliste stand. Das ist vielfältig und umfangreich, und ich darf behaupten, das ist auch zuverlässig. Wenn der Weltverband sich nicht sicher ist, ob jemand sein 200. Century Break (Aufnahme mit 100 oder mehr Punkten, Anm.) gespielt hat, fragt World Snooker bei mir nach.

STANDARD: Worauf kommt es beim Kommentieren an?

Kalb: Klar, man braucht eine Ahnung vom Sport. Aber ich kommentiere mehrere Stunden am Stück. Wenn mich das anöden würde, wie soll ich meine Zuschauerinnen und Zuschauer faszinieren? Das geht nicht. Es muss auch ehrlich und authentisch sein. So etwas kann man nicht spielen.

STANDARD: Sie hören nach der WM als Kommentator auf. Spüren Sie Erleichterung, Wehmut?

Kalb: Vor der Ankündigung war Druck da, wie das wohl aufgenommen werden wird. Ich bin mit mir im Reinen. Ich freue mich wahnsinnig auf meine letzte WM. Einige haben mir gesagt, ich solle kürzertreten, Turniere auslassen, mit weniger Belastung weitermachen. Aber damit würde ich Qualitätsverlust in Kauf nehmen. Das will ich nicht.

STANDARD: Snooker wird im deutschsprachigen Raum ganz eng mit Ihnen in Verbindung gebracht. Was merken Sie selbst davon?

Kalb: Ich habe seit langem mal wieder meinen Namen gegoogelt und war überrascht, wie viele Treffer dazugekommen sind. Von Fans habe ich tausende Nachrichten bekommen. Manche schildern mir, was mein Kommentar für ihr Leben bedeutet hat.

Ronnie O'Sullivan
Ronnie O'Sullivan ist und bleibt der Superstar des Snookers.Rolf Kalb nennt ihn eine Grenzpersönlichkeit: "So jemand fasziniert die Leute."
IMAGO/Cody Froggatt/News Images

STANDARD: Was schreiben Ihnen die Leute?

Kalb: Ein Fan hat mir einen langen Brief geschickt. Sein Vater hatte die Familie verlassen, er hatte sich mit ihm überworfen. Der Vater suchte nach einiger Zeit wieder den Kontakt, widerwillig traf er ihn also im Haus des Vaters. Beim Besuch merkte er, dass im Wohnzimmer nebenan Snooker lief. Sie haben festgestellt, dass sie beide Snookerfans sind. Über Snooker haben sie sich wieder angenähert. Es war eine sehr bewegende Geschichte.

STANDARD: Seit langem tauschen Sie sich bei Übertragungen mit Fans aus. Früher konnte man Ihnen etwa eine SMS schicken, auf die Sie in der Sendung eingegangen sind.

Kalb: Damals habe ich in Paris, am Hauptsitz von Eurosport, kommentiert. Bei einer Übertragung lief plötzlich ein Schriftband am unteren Bildausschnitt: "Haben Sie Fragen an unseren Kommentator? Schreiben Sie uns an folgende Nummer ..." Ich wusste davon aber gar nichts. Die Sendeverantwortlichen wollten eigentlich nicht, dass das auf Sendung geht. Seither haben wir das Angebot, es ist ständig gewachsen.

STANDARD: Heute sind Sie auf Twitter erreichbar. Was hat sich seither im Austausch mit der Community verändert?

Kalb: Zu Beginn wollten Leute Fragen beantwortet haben, etwa zu den Regeln des Sports. Es wurde mit der Zeit mehr zur Gemeinschaft. Oft haben sich Leute so kennengelernt, die heute gemeinsam Snooker schauen.

STANDARD: Gibt es auch Nachteile?

Kalb: Es geht nicht immer nur nett zu, das ist nun mal so im Internet. Es ist aber sehr zivilisiert, weil sich die Leute untereinander disziplinieren. Als Kommentator spricht man ins Nirvana hinein. Ich weiß nie, ob ich die Bedürfnisse der Fans treffe. Darüber habe ich einen Rückkanal. Der ist vielleicht nicht repräsentativ, aber ich bekomme ein Gefühl, ob das gut ankommt oder ob ich an Stellschrauben drehen muss.

STANDARD: Auf Twitter gibt es einen Account, der Sie parodiert. Während der WM wird wieder das Rolf-Kalb-Bingo mit Ihren markantesten Sprüchen gespielt. Haben Sie sich darüber zu Beginn geärgert?

Kalb: Das war alles liebevoll gemeint. Der PseudoRolf, so heißt der Parodie-Account, hat mir zu Beginn geholfen, mich auf Twitter zurechtzufinden. Und er hat mir angeboten, den Account zu schließen, damit nichts durcheinandergerät. Ich sehe nicht, warum. Die Leute haben Spaß daran, wenn wir beide hier sind. Wir werfen uns die Bälle zu.

STANDARD: Der Snookersport hat nach Saudi-Arabien expandiert. Zuletzt fand dort erstmals ein großes Turnier statt. Was sind Ihre Gedanken dazu?

Kalb: Ich bin kein Experte für die Situation in Saudi-Arabien, aber die Menschenrechtsbedenken teile ich. Sportswashing ist ein schwieriger Bereich. Inwieweit kann man sich als Sport davon distanzieren? Ich habe miterlebt, wie stolz und glücklich viele Muslime waren, dass die Stars in einem muslimischen Land angetreten sind. Das muss man respektieren und ist legitim. Bei Saudi-Arabien haben viele Leute von mir verlangt, dass ich auf Sendung Stellung beziehe. Das ist in dem Moment aber nicht meine Aufgabe. Ich bin Snooker-Kommentator und nicht Lehrer für politische Bildung. Interessanterweise werde ich bei Turnieren in China kaum darum gebeten. Dort ist die Menschenrechtslage auch nicht unbedingt vorbildlich. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.

STANDARD: Es gibt Gerüchte über eine mögliche Abspaltung, auch Saudi-Arabien könnte interessiert sein. Glauben Sie, der Sport ändert sich in den nächsten Jahren?

Kalb: Das kann passieren. Ich habe keine Glaskugel. Die Situation ist im Moment aber nicht reif dafür, ich sehe nicht die Notwendigkeit. Es gab schwierige Phasen im Snooker, da hätte eine Abspaltung Sinn gemacht. Für die kommende Saison 2024/25 werden Preisgelder in Höhe von 16 Millionen Pfund garantiert. Weitere Turniere sind in Planung, der Betrag könnte auf 20 Millionen ansteigen. Das ist nicht vergleichbar mit Tennis und Golf, aber verglichen mit der Vergangenheit enorm. Wer auch immer da etwas abspalten möchte, muss erst einmal so viel auf die Beine stellen.

STANDARD: Werden Sie im Ruhestand am Strand Cocktails schlürfen oder beim Wirt Karten spielen?

Kalb: Ich will Abstand gewinnen und mich erholen. Und mich engagieren. Mein Vater war Bergmann, er starb, als ich 16 war. Ich hatte nicht die besten Voraussetzungen im Leben, um Karriere zu machen. Die Gesellschaft gab mir die Chance, mein Potenzial auszuschöpfen und meinen Traum zu leben. Es wäre angemessen, wenn ich davon etwas zurückgeben und mich einbringen kann.

STANDARD: Wie ist Ihre Jugend verlaufen?

Kalb: Es war eine schwere Zeit. Ich dachte, die ganze Welt ist fürchterlich ungerecht. Ich war verzweifelt. Aber ich hatte noch Familie, wir teilten den Schmerz. Und ich hatte meinen damaligen Mathematiklehrer. Er nahm mich zur Seite und sagte: "Rolf, ich weiß, dass Sie gerade eine schwere Zeit durchmachen. Und Sie sind noch immer ein guter Schüler. Aber Sie sind im Moment nicht so gut, wie Sie sein könnten." Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Mit dem Schicksal zu hadern und die Ungerechtigkeit zu beklagen bringt mich nicht weiter. Auch mein Vater hätte sich gewünscht, dass ich meine Möglichkeiten ausschöpfe. Der Gedanke hat mich damals zurückgebracht in die Spur.

STANDARD: Wie haben Sie es geschafft, nie die Begeisterung für Snooker zu verlieren?

Kalb: Ich bin bis heute fasziniert von Snooker. Deswegen war das nicht schwierig. Ich will es nicht verhehlen, es gibt auch Matches, wo Not gegen Elend spielt. Das kann ich auch nicht hochjazzen, das sieht das Publikum, wenn die Mist spielen. Dann möchte ich aber herausarbeiten, was dazu führte, dass beide nicht zu ihrem Spiel finden.

Judd Trump
Judd Trump liegt im Einjahresranking auf Platz eins, seine Formkurve zeigt– von einem hohen Ausgangspunkt kommend– nach unten.
IMAGO/Cody Froggatt/News Images

STANDARD: Wer wird Weltmeister?

Kalb: Außenseiter gewinnen nur selten, im letzten Jahr war es mit Luca Brecel der Fall. Diesmal sind Judd Trump und Ronnie O'Sullivan Favoriten. Trump wirkte auf mich zuletzt etwas kraftlos, als sei der Akku etwas leer. Ich weiß nicht, ob er rechtzeitig zu Kräften kommt für eine Weltmeisterschaft über 17 Tage.

STANDARD: Die häufigste Frage, die Ihnen gestellt wird, lautet: Wann spielt Ronnie? Warum zieht O'Sullivan nach wie vor?

Kalb: Die Figur Ronnie O'Sullivan ist außergewöhnlich. Er wandert auf einem schmalen Grat. So jemand fasziniert die Leute, nicht die Lieben und die Guten, sondern die Grenzpersönlichkeiten. Das ist im Snooker nicht anders. (Lukas Zahrer, 19.4.2024)