Luftaufnahme Friedhof Gräber 
Kato Tritos auf Lesbos: ein den in der Ägäis ertrunkenen Geflüchteten gewidmeter Friedhof.
Foto: APA / AFP / Manolis Lagoutaris

Der EU-Pakt zu Migration und Asyl wurde vom Europäischen Parlament vergangene Woche angenommen. Nur die förmliche Absegnung durch den Rat der EU steht noch aus. Mit der Etablierung der neuen Rechtsvorschriften – neun Verordnungen und eine Richtlinie, die praktisch alle Aspekte in der Beziehung zwischen Flüchtlingen und EU-Mitgliedsstaaten regeln – ist ein jahrzehntelanger politischer Kampf zumindest vorerst ausgesetzt. Und damit wird das europäische Asyl- und Migrationsrecht zwar nicht grundlegend, aber doch umfassend reformiert.

Diese Entwicklung gibt Anlass zu vielen Fragen. Beispielsweise, inwieweit die einzelnen Vorschriften im Detail internationales Recht verletzen oder umgehen. Oder, weshalb welche Kräfte das langwierige ideologisch-politische Geplänkel für sich entscheiden konnten. Oder, wie die nationale Implementierung des Unionsrechts nun gelingen kann. An dieser Stelle sei jedoch eine andere Sicht betont: nämlich dass der Pakt einen Zugang wählt, der globale Realitäten negiert und stattdessen Flüchtlingsrecht und Staatsinteressen gegeneinander ausspielt.

Verknüpftes Schicksal

Richten wir dafür den Blick auf die Geschichte des Umgangs mit Flüchtlingsschutz in Europa. In einer Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1949 heißt es: Es liegt "nicht im Interesse des Staates, Staatenlose (bzw. Flüchtlinge) in einer Position der Unterlegenheit und Unsicherheit zu halten, die ihr Ansehen senkt". Ebendiese Studie und ebendiese Haltung wurden zur Grundlage der Verhandlungen über die 1951 etablierte Genfer Flüchtlingskonvention. Die Erfahrung des Kontinents mit der Vertreibung von Millionen von Menschen im Zuge und infolge des Zweiten Weltkriegs war prägend. Das Schicksal der Flüchtlinge war mit dem Schicksal Europas eng verknüpft, sowohl ideell als auch faktisch. Entsprechend sollte die Konvention nicht nur Flüchtlingsrecht stärken, sondern auch das soziale Chaos hintanhalten, das deren Rechtelosigkeit mit sich brachte.

In weiteren Krisenmomenten kam derselbe Zugang wieder hervor. Zuletzt, als vor zwei Jahren wiederum Millionen Menschen vertrieben wurden, nun aufgrund der russischen Invasion in der Ukraine. Europa entschloss sich, ihnen unbürokratisch und rasch Schutz zu gewähren – auch, um die sonst drohende staatliche Überforderung zu verhindern. Die EU-Innenkommissarin damals: "Mit unseren heutigen Vorschlägen werden wir den Mitgliedsstaaten weitere Möglichkeiten an die Hand geben, diese Krise geordnet und wirksam zu bewältigen. Wir werden (…) Aufenthaltsrechte, Zugang zum Arbeitsmarkt und Wohnraum gewähren, und schließlich werden wir (…) sicherstellen, dass diejenigen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, schnell in die EU gelangen können, ohne langwierige Formalitäten an den Grenzen zu durchlaufen."

Systematische Ausgrenzung

Der Kontrast zum nun beschlossenen Pakt ist evident. Bürokratisierung, massenhafte Inhaftierung an den Grenzen, Verweigerung ordentlicher Asylverfahren, Einschränkung beim Zugang zu Gerichten und eine Ausweitung von Überwachungsmaßnahmen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Damit setzt die EU nicht nur auf die Perpetuierung, sondern auf die verstärkte Umsetzung einer Idee, die seit Jahrzehnten weder Flüchtlinge effektiv schützt, noch die legitimen Ordnungs- und Sicherheitsinteressen Europas nachhaltig fördert. Die destruktiven Auswirkungen, die die systematische geografische, soziale und rechtliche Ausgrenzung von Teilen der Bevölkerung nicht nur auf die Betroffenen selbst, sondern auch auf das Gesamtgefüge einer Gesellschaft haben kann, sind beachtlich. Es sei an die Spannungen in Griechenland erinnert, die unter anderem durch die dem Pakt vorausgegangenen "Experimente", an den Außengrenzen Haftlager für vermeintlich schnelle Verfahren einzurichten, entstanden sind. Ebenso ist bekannt, dass derartige Maßnahmen unverhältnismäßig viel Ressourcen in Anspruch nehmen, die unter anderem im Integrationsbereich dringend benötigt werden. Ihr Effekt auf die Entscheidung von Flüchtlingen, gefährliche bis tödliche Routen in Kauf zu nehmen, um in Europa Schutz zu suchen, ist hingegen unbelegt.

Weltweite Kooperation

Der Pakt ist zudem Ausdruck einer Haltung, die Europas Einbettung im Gefüge einer interdependenten Welt weiterhin unterschätzt. Denn in vielerlei Hinsicht lässt sich hier das Schicksal des Kontinents nicht vom Schicksal der Welt trennen. Kriege, Konflikte, wirtschaftliche Verwerfungen, soziale Unruhen und Umweltkatastrophen sind weltweite Phänomene, die von weltweiten Desintegrationsprozessen verursacht werden, die weltweit zu Flucht und Vertreibung führen. Dass ein gemeinsames Vorgehen der EU zielführend ist, wird mittlerweile von vielen anerkannt – der nächste Schritt liegt in der Stärkung der Einsicht, dass weltweite Kooperation und die Etablierung und Stärkung internationaler Institutionen notwendig sind.

"Dadurch entsteht eine Art kultureller Rückstand." (Zygmunt Bauman)

Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman schrieb im Kontext der Krise 2016: "Wir sind bereits (ungefragt) in einen kosmopolitischen Zustand universeller, menschheitsweiter Interdependenz geworfen worden. Aber es fehlt uns noch (…) ein begleitendes kosmopolitisches Bewusstsein (…). Dadurch entsteht eine Art kultureller Rückstand (...), der sich in der Behandlung der Flüchtlinge zeigt. Sie werden wohl so lange die Kollateralopfer dieses mangelnden Verständnisses bleiben, bis wir uns ernsthaft um die institutionellen, staatlichen Grundlagen dieses Rückstands bemühen."

Das Wohl Europas

Diese Sicht auf die Welt geht nicht zwangsläufig mit der Forderung einher, dass Europa oder Österreich mehr oder gar alle Flüchtlinge aufnehmen sollte. Das ist auch nicht Anliegen dieses Gastkommentars – denn die Debatte dazu fördert nicht nur eine destruktive Polarisierung, sie scheint auch von Wesentlicherem abzulenken. Doch die vom EU-Pakt getroffene Annahme, die Stärkung des Flüchtlingsrechts stehe den Interessen der Union und ihrer Mitgliedsstaaten entgegen, muss hinterfragt werden. Das Wohl Europas, das Wohl von Flüchtlingen und das Wohl der Welt sind vielmehr miteinander verwoben. Ein europäischer Pakt für Migration und Asyl müsste das berücksichtigen. (Adel-Naim Reyhani, 20.4.2024)