Schach Kandidatenturnier Toronto
Hikaru Nakamura (Bild) zog nach einem Hattrick mit Jan Nepomnjaschtschi gleich. Mit Dommaraju Gukesh und Fabiano Caruana liegen aber auch noch zwei weitere Spieler aussichtsreich im Rennen.
IMAGO/Sankhadeep Banerjee

Toronto – Allein für das Schachspiel hat sich die Erfindung des Internets ausgezahlt. Während der Brettsport mit dem Fernsehen jahrzehntelang auf Kriegsfuß stand, hat Schach sich im Streamingzeitalter unerwartet neue, junge Zuschauerschichten erschlossen – und ein Level an sportlicher Dramatik und Unterhaltung in seiner medialen Aufbereitung erreicht, mit dem wohl niemand rechnen konnte.

Beim Kandidatenturnier in Toronto trifft das alles zum Quadrat zu, weil die acht Teilnehmer vergessen zu haben scheinen, wo sich die Handbremse befindet. Nicht nur die jungen Wilden, auch die alten Hasen geben in jeder Partie Gas, als würde nur Platz eins zählen. Und tatsächlich, so ist es ja auch: Nur der Sieg berechtigt dazu, Weltmeister Ding Liren im Zweikampf zu fordern, ob man nun Zweiter oder Achter wird, ist auch schon egal.

Dem Hauen und Stechen, das aus dieser Ausgangslage resultiert, mit einer Judit Polgár oder einem Pétér Léko im Ohr zuschauen zu dürfen, die im Livestream gratis stundenlange Meisterklassen in Stellungsanalyse geben, ist dann schon ganz großes Kino – zumindest für Schach-Aficionados.

Nakas Hattrick

Und dann ist da noch Ober-Streamer Hikaru Nakamura, der seine Teilnahme am Kandidatenturnier gerne zum Hobby herunterjazzt, weil die Kreation von Content – also Unterhaltungsprogramm für sein Online-Publikum – seit Jahren sein Brotberuf ist. Weshalb der Weltranglistendritte in Toronto nach jeder seiner Partien, selbst wenn sie fürchterlich in die Hose gegangen sind, professionell grinsend ein Video aufnimmt, in dem er seine Züge und Gedanken während des Spiels in Maschinengewehrtempo herunterrattert und dabei auch nie auf die eine oder andere Blödelei – "Uh-oh, Spaghettio!" – vergisst.

Dass Nakamura, wie er immer wieder betont cool behauptet, der Ausgang des Turniers völlig egal sei, kaufen ihm wohl allerdings nicht einmal seine größten Fans ab. Zu nervös agierte der Co-Favorit, der schon 2022 in Madrid nur hauchdünn an seinen Nerven und damit der WM-Qualifikation gescheitert war, bis über die erste Turnierhälfte hinaus.

Niederlagen mit beiden Farben gegen Vidit Gujrathi, der seinerseits beide Begegnungen gegen den lange allein führenden Jan Nepomnjaschtschi verlor, schienen Nakamura im Kampf um den Sieg das Genick zu brechen. Aber dann lief plötzlich alles für den US-Amerikaner: In den Runden zehn, elf und zwölf gelang ihm ein Hattrick, mit dem Nakamura sich auf 7 1/2 Punkte hievte und so mit Nepomnjaschtschi gleichzog, der das Tempo als einziger der acht Teilnehmer in Hälfte zwei markant gedrosselt hatte, während rings um ihn die Fetzen flogen.

Da waren's nur noch vier

Ein Zweikampf um den Sieg steht nun aber mitnichten bevor: Denn da sind auch noch Dommaraju Gukesh, mit 17 Jahren jüngster Turnier-Teilnehmer, sowie Fabiano Caruana, die darum mitspielen wollen und werden. Auch Gukesh notiert nach einem kreativen Schwarzsieg über Schlusslicht Nicat Abasov bei 7 1/2 Punkten, während Caruana, der bislang einiges schuldig blieb, sich durch einen Erfolg über Vidit auf 7 Punkte herangepirscht hat.

Um die Dramatik noch zu steigern, treffen die vier Sieganwärter in den letzten beiden Runden auch noch in direkten Duellen aufeinander. Am Samstag kommt es zum Schlager Nepomnjaschtschi versus Nakamura, in der sonntäglichen Schlussrunde trifft Letzterer dann auf Gukesh, während Caruana mit den weißen Steinen wohl Nepomnjaschtschi wird knacken müssen, wenn er doch noch WM-Herausforderer werden will.

Wilder Schluss

Sollten nach 14 Runden zwei oder mehr Spieler gleich viele Punkte haben, wird es zum Schluss noch einmal ganz wild: Dann muss nämlich eine Serie von Schnellschachpartien mit 15 Minuten plus zehn Sekunden Zugbonus pro Spieler darüber entscheiden, wer Ding Liren um den WM-Titel fordern darf.

Im parallel ausgetragenen Damenbewerb wird es wohl eine chinesische Herausforderin für die chinesische Weltmeisterin Ju Wenjun geben – die Frage ist nur, welche: Mit 8 aus 12 liegt Tan Zhongyi in Führung, ihre Landsfrau Lei Tingjie hat mit 7 1/2 Punkten aber ebenfalls noch gute Chancen auf den Sieg. (Anatol Vitouch, 19.4.2024)