Am Internationalen Gerichtshof (IGH) muss sich Israel gegen den Vorwurf, es betreibe Genozid gegen die Palästinenser, verteidigen. Aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) drohen Haftbefehle gegen israelische Militärs und Politiker wegen möglicher Kriegsverbrechen im Gazastreifen, möglicherweise auch gegen Premier Benjamin Netanjahu.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag behandelt die  umstrittene Genozid-Anklage Südafrikas gegen Israel.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag behandelt die umstrittene Genozid-Anklage Südafrikas gegen Israel.
REUTERS/PIROSCHKA VAN DE WOUW

Inmitten all dieser internationalen Kontroversen steht der prominente israelische Völkerrechtsexperte Eyal Benvenisti von der Universität Cambridge. Er berät die israelische Regierung in ihrer Verteidigung gegen den Genozidvorwurf und beschäftigt sich mit der Frage, wie Israel eine Strafverfolgung durch den IStGH verhindern kann. Und dafür hat er, zeigt sich Benvenisti im STANDARD-Gespräch überzeugt, bereits einen Beitrag geleistet.

Denn der 65-jährige Jurist war intensiv in die Proteste gegen die von der rechten Koalition geplante Justizreform involviert. Diese hätte dem israelischen Höchstgericht die Möglichkeit genommen, grundrechtlich umstrittene Entscheidungen der Knesset zu verhindern, und damit eine entscheidende Kontrollfunktion des Rechtsstaats außer Kraft gesetzt.

Kontrolle durch Internationalen Strafgerichtshof

Hätte die Regierung diese Pläne nicht verworfen, dann wäre eine Strafverfolgung von Politikern und Militärs viel wahrscheinlicher geworden, sagt Benvenisti. "Wenn die Ankläger nicht überzeugt wären, dass Israel verlässliche rechtsstaatliche Überprüfungsverfahren hat, dann würden die Militärs tatsächlich der Kontrolle durch den Strafgerichtshof unterliegen. Davor habe ich immer gewarnt, und jetzt wäre das eingetroffen." Sein paradoxes Fazit: "Die jetzige Koalition profitiert vom Scheitern ihrer eigenen Vorhaben."

Obwohl Israel dem IStGH nicht beigetreten ist, sehen sich die Ankläger und Richter für israelische Kriegshandlungen zuständig, weil Palästina als Mitglied zählt.

Eyal Benvenisti
Eyal Benvenisti war auf Einladung des Israel Studies Center der Universität Wien in Österreich.
privat

Dabei ist Benvenisti davon überzeugt, dass das Militär sich an das internationale Kriegsrecht hält oder sich zumindest stets darum bemüht. "Die Juristen in der Armee waren meine Studenten", erzählt er lächelnd. "Die Offiziere wollen professionell sein und sich rechtskonform verhalten." Verstöße seien auf Fehlentscheidungen oder falsche Interpretationen zurückzuführen. Dies könne man allerdings über Teile der Regierung, vor allem die rechtsextremen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, nicht behaupten.

Aber selbst deren radikale Äußerungen gegen die Palästinenser würden den Genozidvorwurf, den Südafrika vor dem IGH in Den Haag erhoben hat und der von vielen propalästinensischen Aktivisten in aller Welt wiederholt wird, nicht rechtfertigen, ist Benvenisti überzeugt. "Man müsste dafür beweisen, dass die Handlungen des Militärs dazu gedacht sind, die Palästinenser als Volk zu vernichten, oder dass die Regierung der Armee einen solchen Auftrag gegeben hat. Das ist aber nie geschehen."

Kolonialismus, Apartheid, Genozid

Was Benvenisti an der südafrikanischen Anklageschrift besonders ärgert, sei die Behauptung, "dass Israel ein koloniales Gebilde sei, das seit seiner Gründung eine Apartheidpolitik betrieben habe, und der Genozid die logische Konsequenz seiner Existenz darstelle". Dies sei völlig falsch.

Der IGH habe in seiner Entscheidung auch nicht den Vorwurf des Genozids als plausibel bezeichnet, wie es vielfach berichtet wurde, sondern nur die Notwendigkeit, das Recht der Palästinenser zu bewahren, in Zukunft einen gegen sie gerichteten Genozid zu behaupten. Sehr wohl haben die Richter mehr humanitäre Hilfe für den Gazastreifen eingefordert – ein Aufruf, dem sich sogar der israelische Richter angeschlossen hat. Dass dies im Zuge einer Völkerrechtsanklage geschah, erklärt Benvenisti damit, dass der IGH nur beim Genozidvorwurf über Zuständigkeit verfüge, aber nicht bei anderen Vergehen.

Das Massaker der Hamas am 7. Oktober habe hingegen sehr wohl genozidalen Charakter, weil es darauf ausgerichtet gewesen sei, alle Menschen auf dem israelischen Staatsgebiet, derer die Terroristen habhaft werden konnten, zu vernichten.

Kampf für Demokratie in Israel

Benvenisti war auf Einladung des Israel Studies Center an der Universität Wien in Österreich. Er ist vor kurzem als Direktor des Lauterpacht Centre for International Law in Cambridge zurückgetreten, weil er sich in Israel dem Kampf für die Demokratie widmen will.

Er habe stets für eine Zweistaatenlösung entlang der Grenzen von 1967, der sogenannten Grünen Linie, gekämpft und sehe dies als einzige völkerrechtlich legitime Lösung für den Nahostkonflikt, sagt Benvenisti. Seit den Oslo-Abkommen von 1993, als Israel die Palästinenser als Volk anerkannte, sei jede Regierung dazu verpflichtet; die Absage an einen Palästinenserstaat und die Fortsetzung der Besatzung daher ein klarer Völkerrechtsverstoß. Warum sieht er die Grüne Linie, die die heutige israelische Regierung als irrelevant betrachtet, als einzig legitime Grenze an? Benvenisti: "Der Krieg von 1948 hat in einem Übereinkommen über die Grenzen des Staates geendet, und die können nur durch ein neues Übereinkommen geändert werden."

Dabei war es Benvenistis verstorbener Vater, der frühere Vizebürgermeister von Jerusalem, Meron Benvenisti, der bereits in den 1980er-Jahren vor dem Tod der Zweistaatenlösung durch den anhaltenden Siedlungsbau gewarnt und sich deshalb für einen binationalen Staat von Juden und Palästinensern eingesetzt hat.

Verfälschung des Völkerrechts

Es mache ihm Sorgen, dass Völkerrecht von Aggressoren heute ignoriert und verfälscht werde, sagt Benvenisti. "Wenn Putin die Invasion der Ukraine völkerrechtlich rechtfertigen kann, dann hat das Völkerrecht keine Bedeutung mehr", sagt er. Das gelte auch für die extremen Positionen im Nahostkonflikt, die der anderen Seite das Existenzrecht absprechen. Auch Hitler habe einst den Überfall auf Polen als legitimen Akt der Verteidigung gerechtfertigt.

Solche Verfälschungen dürfe man nicht akzeptieren, und das Völkerrecht habe die Mittel, solche Behauptungen zu widerlegen. "Vernünftige Menschen können sich darauf einigen, was richtig und falsch ist", sagt er.

Für die Zukunft einer internationalen Rechtsordnung hängt für Benvenisti viel von den kommenden Präsidentenwahlen in den USA ab. "Die EU und die USA sind die Torwächter des Völkerrechts, das gilt in den USA vor allem für Barack Obama und Joe Biden. Donald Trump hält es für unbedeutend, und wenn diese Überzeugung wieder schlagend wird, dann stecken wir in tiefen Schwierigkeiten. Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie die Welt aussehen wird, wenn Trump ins Weiße Haus zurückkehrt." (Eric Frey, 1.5.2024)