"Der Tod von Andrea Papi war eine Wende, er hat alles verändert", betont der Dokumentarfilmer Andreas Pichler im Gespräch mit dem STANDARD. Im Val di Sole in der autonomen italienischen Provinz Trentino, wo die tödliche Bärenattacke stattfand, und auch in den Nachbartälern sei die einheimische Bevölkerung in Panik geraten, niemand habe sich mehr in die Wälder getraut. "Es kam zu Demonstrationen gegen die Präsenz der Bären, in den Dörfern wurden Schilder aufgehängt mit dem Spruch 'Gerechtigkeit für Andrea!'." Die Schilder und Spruchbänder seien immer noch da. "Es sind gewaltige Emotionen im Spiel, der Tod des Joggers war für viele Einheimische ein Trauma", betont Pichler.

Warnung vor Bären am Rande eines Waldes im Trentino.
Teyssot,Pierre / Action Press /

Der 26-jährige Andrea Papi aus dem Ort Caldes war am späten Nachmittag des 6. April 2022 in einem Wald oberhalb seines Dorfs joggen gegangen und von seinem Training nicht mehr zurückgekehrt. Sein schlimm zugerichteter Leichnam wurde noch in derselben Nacht von einem Suchtrupp aufgefunden. Die Biss- und Kratzspuren an seinem Kopf, im Gesicht und am Genick ließen von Anfang an wenig Zweifel daran aufkommen, dass er von einem Bären getötet worden war. Weil Bären sich Menschen gegenüber aber normalerweise nicht aggressiv verhalten, lag die Vermutung nahe, dass Andrea Papi einer Bärenmutter mit Jungtieren begegnet sein muss, die von ihm überrascht wurde und die angriff, um ihre vermeintlich bedrohten Jungen zu beschützen. Diese Vermutung sollte sich in der Folge als richtig herausstellen.

Schwierige Familie

Mithilfe von DNA-Spuren konnte relativ schnell die Identität der Bärin ermittelt werden: Es handelte sich um die damals 17 Jahre alte JJ4, auch "Gaia" genannt. Zwei Wochen nach der tödlichen Attacke konnten sie und zwei ihrer drei Jungen mit einer Lebendfalle eingefangen werden (das dritte Jungtier saß neben der Falle, als die Ranger kamen). Die Bärenmutter wurde in das gesicherte Trentiner Freigehege von Casteller gebracht, ihre drei Jungen umgehend wieder in Freiheit gesetzt. JJ4 hat eine tragische Familiengeschichte: Sie ist die Schwester des Problembären Bruno, der 2006 in Bayern abgeschossen worden war; ein weiterer Bruder von ihr ist JJ3, ebenfalls ein Problembär, den im Schweizer Kanton Graubünden zwei Jahre später das gleiche Schicksal wie Bruno ereilte. JJ4 befindet sich, nachdem ein Verwaltungsgericht den Abschussbefehl der Trentiner Provinzregierung aufgehoben hatte, immer noch im Gehege von Casteller.

Der Tod des Joggers hat auch für Andreas Pichler vieles verändert. Denn als Andrea Papi starb, war der Filmemacher schon seit über einem Jahr am Drehen gewesen. In seinem Fokus stand aber nicht die damals noch weitgehend unbekannte JJ4, sondern M49, genannt Papillon. Der junge männliche Bär hatte im Trentino im Jahr 2019 Schlagzeilen gemacht, weil er zweimal eingefangen und beide Male wieder ausgebrochen war. Zuvor hatte "Ausbrecherkönig" Papillon zahlreiche Tiere der Bauern gerissen und war auch in Almhütten eingebrochen. Schon damals hätten die Menschen Angst gehabt. "M49 war der konkrete Anlass für mein Filmprojekt gewesen – und nach dem Tod von Andrea Papi konnten wir alles, was wir über diesen Bären gedreht hatten, wegwerfen", sagt Pichler.

JJ4, die im Fall des getöteten Joggers verdächtigt wird, liegt narkotisiert in einer Lebendfalle. Eine Entscheidung zu ihrer Tötung hob ein Gericht wieder auf.
APA/AFP/ANSA/STRINGER

Es gab nun mit JJ4 eine neue, prominente Hauptfigur für den Film, eine neue Dramatik, eine extreme Zuspitzung des Konflikts um die Wiederansiedlung der Bären, der im Grunde kein neuer war: "Ich habe das vor 25 Jahren gestartete Projekt 'Life Ursus' im Nationalpark Adamello-Brenta (das auch von der EU gefördert wird) von Anfang an mitverfolgt und schon lange gedacht, dass man darüber einmal einen Film machen müsste, zumal es ja praktisch von Anfang an zu Konflikten zwischen Mensch und Tier kam", betont der in Bozen lebende Grimme-Preis-Träger Pichler. "Letztlich geht es bei dem Wiederansiedlungsprojekt um die Fragen, wem eigentlich die Berge und die Natur gehören und welches Verhältnis wir Menschen zur Natur haben." Mit anderen Worten: Es geht um die großen Fragen.

Bären- statt Menschenschutz?

In seinem Film, in dem auch atemberaubende Naturaufnahmen zu sehen sind, zeichnet Pichler die Anfänge des Projektes Life Ursus nach, erzählt die Geschichte der Auswilderung der Bären aus Slowenien und des schon vor dem Tod des Joggers oft unversöhnlich und ideologisch geführten Kriegs zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Tierschützern. Dabei lässt Pichler alle Beteiligten zu Wort kommen: die leidgeprüften Eltern des getöteten Joggers, einheimische Bauern, Tierschützer – aber vor allem auch die Ranger des "Corpo Forestale" (Forstpolizei) und die Tierärzte, die sich um die Bären kümmern. Sie sind mit dem Tod Andrea Papis "zwischen Hammer und Amboss" gekommen, wie Ranger-Chef Claudio Groff im Film berichtet. Die Einheimischen fühlen sich von den Rangern zu wenig geschützt, für die Tierschützer sind sie die "Bärenmörder".

Für Pichler ist der erbitterte Glaubenskrieg um die Bären der Spiegel einer extrem polarisierten Gesellschaft, in welcher Probleme populistisch ausgeschlachtet werden und eine Einigung auf pragmatische Lösungen praktisch unmöglich geworden ist. Solche Lösungen gäbe es durchaus: Sie sind schriftlich und detailliert festgehalten in dem Protokoll, das die Regeln für den Umgang mit den Bären enthält. Darin steht unter anderem, dass Problembären, die für den Menschen gefährlich werden können, "entnommen" werden müssen, wenn nötig durch Abschuss. Doch jede Tötung eines Bären wird von den Tierschützern und den Gerichten verhindert – egal, als wie problematisch und gefährlich er eingestuft wird. Von JJ4 sagten die Experten schon vor dem tödlichen Angriff auf den Jogger, dass sie eine ernste Gefahr für Menschen darstelle.

Nicht alle im Tentino würden sich eine Bärenstatue aufstellen.
imago stock&people

Dass man den einzelnen Tieren ein Recht auf Leben einräumt, wie die Tierschützer dies fordern, ist für Pichler eine Haltung, die durchaus Respekt verdiene. Der Regisseur zeigt aber auch Verständnis für die Einheimischen, "die nie gefragt worden sind, ob sie mit der Wiederansiedlung der Bären einverstanden sind". Auf dem Land, betont der Südtiroler Pichler, beginne der Wald eben gleich neben dem Dorf. "Und wenn man Angst bekommt, in seinen Wald zu gehen, stellt sich das Gefühl ein, sich nicht mehr frei bewegen zu können und damit seiner Rechte beraubt zu werden." Die konsequente "Entnahme" der problematischen Tiere wäre wohl der einzige Weg gewesen, tödliche Unfälle zu vermeiden und bei den Einheimischen Akzeptanz für die Präsenz der Bären zu schaffen.

Bei Treffen 90 Prozent Überlebenschance

Dass der Konflikt zwischen lokaler Bevölkerung und Tierschützern derart eskaliert ist – es kam in den vergangenen Jahren immer wieder zu Handgreiflichkeiten, Boykottaufrufen und sogar zu Morddrohungen –, ist für Pichler nicht zuletzt die Folge eines Politikversagens. Die Behörden des Trentino hätten es seit Beginn der Wiederansiedlung der Bären versäumt, die Bevölkerung über die möglichen Gefahren, die von Bären ausgehen können, zu informieren und Verhaltensregeln aufzustellen für den Fall einer Nahbegegnung mit den Bären. "Das Risiko ist jahrelang kleingeredet worden", betont der Filmemacher. Dabei könne mit der Befolgung ganz weniger Regeln das Risiko massiv gesenkt werden, betont im Film auch der pensionierte Tierarzt Alessandro De Guelmi: "Wenn man sich zum Beispiel langsam von einem plötzlich auftauchenden Bär entfernt, statt panisch und schreiend wegzurennen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass nichts passiert, 90 Prozent."

Das Versagen der Politik und die extreme Polarisierung zwischen den Gegnern und den Befürwortern der Bären haben laut Pichler dazu geführt, "dass nun alle die Verlierer sind: die einheimische Bevölkerung, die Tierschützer, die Ranger, und die Bären sowieso". Zu Beginn des Projekts habe es in der Bevölkerung des Trentino durchaus noch eine "Grundakzeptanz" für das Wiederansiedlungsprojekt gegeben, aber spätestens mit dem Tod des Joggers sei diese verspielt – "ich fürchte, für immer". Eine erfolgreiche, dauerhafte Wiederansiedlung von Bären sei aber nur möglich, wenn dies von der einheimischen Bevölkerung mitgetragen werde. Was passiere, wenn das nicht der Fall sei, sehe man nun im Trentino: Vergangenes Jahr wurden mehrere tote Bären aufgefunden, die höchstwahrscheinlich illegal getötet worden waren.

Ein Bär im Zoo von Rom.
AP

Der Film von Andreas Pichler handelt von den Bären, aber noch viel mehr von den Menschen und ihren Ängsten. "Der Tod", sagt Roberto Guadagnini, der leitende Tierarzt des Bärenteams der Ranger, "ist immer eine Tragödie. Wird der Tod aber durch ein Wildtier verursacht, ist das in unserer Gesellschaft nicht akzeptabel." Denn ein solcher Tod erinnere uns Menschen daran, "dass wir schwach sind". Der Bär sei zehnmal stärker als der Mensch. Und das habe Konsequenzen: "Als menschliche Spezies müssen wir uns die Frage stellen, was für eine Natur wir wollen: eine künstliche Walt-Disney-Natur – oder eine Natur mit Wäldern, in denen noch Leben existiert, das wir nicht unter unserer Kontrolle haben." Im Wald könne man auch von einer infizierten Zecke gebissen werden und an Hirnhautentzündung sterben, betont Guadagnini. Das Problem mit den Bären sei also nicht ihre potenzielle Gefährlichkeit als solche. "Das Problem ist, dass wir die Gefahr akzeptieren müssten. Wenn wir nicht akzeptieren, dass Bären mit uns in unseren Bergen leben, dann lehnen wir nicht einfach die Bären ab. Sondern dann lehnen wir die Natur als solche ab." (Dominik Straub aus Rom, 1.5.2024)