Während einer aufrechten Ehe ist die Obsorge eines Kindes grundsätzlich durch beide Elternteile gewährleistet. Im Idealfall besteht die Obsorge beider Eltern auch nach Auflösung einer Ehe weiter. Dabei wird in der Regel der hauptsächliche Aufenthalt des Kindes bei einem der beiden Elternteile festgelegt. Im vorliegenden Fall, mit dem sich der Oberste Gerichtshof (OGH) zu Beginn dieses Jahres beschäftigt hat, stellte sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das Gericht eine vom Vater beantragte Wohnsitzverlegung von der Mutter zu ihm ohne vorherige Anhörung der Mutter bewilligen kann.

Zerrissene Zeichnung mit Mutter, Vater und Kind
Im Zuge ihres Rechtmittels gegen die Entscheidung des Erstgerichts brachte die Mutter vor, dass ihr rechtliches Gehör verletzt wurde.
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Die Eltern ließen sich im Mai 2023 scheiden, sie hatten die gemeinsame Obsorge für die minderjährige Tochter. Vorerst hatte die Tochter ihren Hauptaufenthaltsort bei der Mutter in Wien. Die Mutter wollte gemeinsam mit der Tochter nach Budapest ziehen, weshalb der Vater im Juli 2023 beantragte, das Gericht möge den Hauptaufenthaltsort der Tochter zu ihm verlegen. Der Vater argumentierte, dass die Verlegung des Wohnsitzes nach Budapest dem Wohl des Kindes widerspreche, insbesondere aufgrund der psychischen Erkrankung der Mutter, die zuvor ihre medikamentöse Behandlung abgesetzt hätte. Eine zuvor durchgeführte Gefährdungsabklärung des Jugendamtes ergab jedoch keine Kindeswohlgefährdung durch die Mutter. Aber auch der Vater hatte selbst eine neue Arbeitsstelle in Pecs, Ungarn, gefunden und plante daher einen Umzug mit der gemeinsamen Tochter dorthin.

Rechtliches Gehör verletzt

Das Erstgericht erklärte – ohne Anhörung der Mutter – die Wohnsitzverlegung der Minderjährigen mit der Mutter nach Budapest für unzulässig, legte den Hauptaufenthaltsort der Minderjährigen vorläufig beim Vater fest und genehmigte die Wohnsitzverlegung der Tochter mit dem Vater nach Pecs, Ungarn.

Im Zuge ihres Rechtmittels gegen die Entscheidung des Erstgerichts brachte die Mutter vor, dass ihr rechtliches Gehör verletzt wurde. Trotz ihrer psychischen Erkrankung, wegen derer sie in Behandlung sei und sämtliche ärztlichen Anweisungen befolge, gefährde sie ihre Tochter zu keiner Zeit. Sie sei in der Lage, ihrer Tochter ein liebevolles Zuhause zu bieten. Zudem hob die Mutter hervor, dass der Vater an Kontrollzwang leide und daher erhebliche Erziehungsdefizite aufweise.

Rechtliches Gehör für beide Elternteile

Das Rekursgericht (zweite Instanz) bestätigte die erstgerichtliche Entscheidung. Der OGH sah dies anders und führt aus, dass die Wahrung des rechtlichen Gehörs einer der wichtigsten Grundsätze des Österreichischen Verfahrensrechts darstelle. Zwar sei es richtig, dass im Obsorgeverfahren die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme ohne vorangehende Anhörung des Antragsgegners möglich ist, wenn diese Entscheidung zum Schutz eines Minderjährigen aufgrund besonderer Umstände unverzüglich zu treffen ist, dabei sei aber ein besonders strenger Maßstab anzulegen.

Der OGH hielt fest, dass derartige besondere Umstände im gegenständlichen Fall nicht vorlägen. Die Wohnsitzverlegung nach Budapest sollte erst einen Monat nach Antragstellung durch den Vater erfolgen. Zudem hatten die Vorinstanzen die Gefährdungsabklärung des Jugendamtes nicht hinreichend beachtet, welches von keiner Kindeswohlgefährdung durch die Mutter ausging. Schwierigkeiten mit der Kontaktaufnahme mit der Mutter behauptete der Vater gar nicht. Es gab daher laut OGH keinen Anlass, der Mutter kein rechtliches Gehör zu gewähren. Weil die Mutter umfassend darlegen konnte, welche Gründe aus ihrer Sicht gegen die beabsichtigte Veränderung des Hauptaufenthaltsorts der Minderjährigen hin zum Vater sprachen, verwies der OGH die Sache an das Erstgericht mit dem Auftrag zurück, die Mutter anzuhören und im Anschluss eine neuerliche Entscheidung zu treffen.

Zusammenfassend betont der OGH mit dieser Entscheidung die Bedeutung des rechtlichen Gehörs beider Elternteile und hebt hervor, dass auch vorläufige Maßnahmen nur unter außergewöhnlichen Umständen, die zur Sicherung des Kindeswohls zwingend erforderlich sind, ohne Anhörung beider Eltern erlassen werden dürfen. (Helena Marko, Anna Büchel, 10.5.2024)