In Thailand hängen wahrhaftige Khao-Man-Hendln in der Auslage, in Wien müssen es Attrappen aus Plastik sein.
Gerhard Wasserbauer

Es war eine echte Sensation, als das All Reis in Wien-Fünfhaus vor bald sechs Jahren aufsperrte und die virtuose Würz- und Feuerkraft der thailändischen Küchen in Wien ganz ungefiltert und unmittelbar verfügbar wurden. Klar, Thai-Restaurants gab es auch vorher – aber das All Reis war halt ein Ableger von Talad Thai, dem mit Abstand besten Thai-Shop des Landes, mit, immer dienstags, frischer Lieferung aus dem Bangkok-Flieger. Dementsprechend dicht waren die Tische stets mit Thais besetzt, bevor auch die Langnasen Wind davon bekamen.

Der Shop wurde geschlossen, dafür aber wurden weitere zwei Restaurants eröffnet. Das All Reis kocht immer noch an der Vorfront des lokalen Südostasienangebots, der Erfolg beim lokalen Publikum scheint aber auch hier ein Zurückschrauben der Kompromisslosigkeit bei Würzvielfalt und -potenz nach sich zu ziehen. Jetzt besinnt sich Betreiberin Nisa Chon Suwantha („Frau Gib“ genannt) aber ganz offenbar der Ursprünge. Die neueste Hütte ist ein Loch in der Wand auf der Stubenbastei, ein winziger Imbiss mit gerade sieben Hockern an der Wand und einem Kassenpult, vor dem gesottene Hendln an Haken baumeln.

Wird Wien jetzt Bangkok? Nicht in echt. Während die gekochten Hendln in thailändischen Garküchen problemlos an der warmen Tropenluft abhängen und Lust auf das Kultgericht Khao Man Gai machen dürfen (weshalb sie auch binnen kurzer Zeit durch frischgekochte ersetzt werden müssen), ist das an einem Hort der Zivilisation wie Wien natürlich undenkbar. So schnell kann man gar nicht schauen, wie das Magistrat im Falle freihängender, ungekühlter gegarter Hendln auftauchte, wir sind ja nicht in London, Paris, New York oder Bangkok, so weit kommt’s noch. Also sind die Hendln über der Budl aus Hartpastik.

Khao Man Gai, mit Gewürzen gekochtes Huhn, gegartem Reis, klarer Suppe und Dips
Severin Corti

Aber Khao Man Gai, was ist das überhaupt? Das Gericht ist die Thai-Abwandlung eines in Singapur legendären, quer durch Südostasien in Variationen verehrten Gerichts. Auf Chinesisch heißt es Wenchang Ji, auch bekannt als Hainanese ­Chicken Rice. Dafür wird Huhn mit Gewürzen (für Khao Man Gai im Wesentlichen Ingwer, Knoblauch und etwas Pandan-Blatt) gekocht und die Suppe verwendet, um darin Reis zu garen. Dazu gibt es noch mehr mit darin weichgekochtem Rettich servierte klare Suppe. Das ergibt ein für Thai-Verhältnisse sehr mildes, meist lauwarm serviertes Gericht, das sich als ideale Aufbaunahrung für Rekonvaleszente, etwa nach exzessiv würzigem Essen, empfiehlt. Damit es nicht fad wird, gibt’s Dip mit frischem Chili, Knoblauch, Bohnenpaste, Zucker und Essig dazu. Macht sich sehr gut zum Suppenhuhn, sollte aber mit Vorsicht genossen werden: Der Knoblauch wirkt im Konzert der Aromen täuschend harmlos, könnte in den Stunden danach aber zu sozialer Ausgrenzung führen.

Schlürfen der Düsternis

Khao Soi Ga, Eier-Reisnudeln in dichter, curryschwerer Suppe mit löffelweich gegartem Hendlhaxl
Gerhard Wasserbauer

Aber es gibt noch ein anderes, vielleicht noch spektakuläreres Gericht im Kao Soi: Khao Soi Gai, wie man es in Chiang Mai, aber auch in Laos und im Süden Myanmars (wenn auch unter anderem Namen) kennt: Eier-Reisnudeln, die Frau Gib extra aus Chiang Mai importiert, in dichter, curryschwerer Suppe mit löffelweich gegartem Hendlhaxl. Als Topping gibt es weitere, diesfalls knusprig frittierte Nudeln und frische Zwiebel sowie gesäuertes Blattgemüse und Limette. Ideal, um sich den Punch, mit dem diese von Nelke, Sternanis und anderem Currygewürz geradezu düstere Suppe einen anfährt, ein bisserl frischer zu gestalten. In Kombination mit den köstlich glitschigen Nudeln artet das schnell in fiebriges Schlürfen und Hochsaugen der hochaufgeladenen Essenz aus. So gut! Und das Beste: Nach kaum 15 Minuten ist man wieder draußen, frisch aufmagaziniert, um den Wirrnissen des Tages mit innerer Stärke zu begegnen.

Moment: Thai Sticky Rice mit Mango, Kokosmilch und getrockneten Mungobohnen! Der ist hier nämlich genau wie es sich gehört, schön salzig, mit guter Mango und dem köstlichen Umami-Knusper der gedörrten Bohnen. (Severin Corti, 10.5.2024)