Die Kunst der Toreros  oder die Performance
Die Kunst der Toreros oder die Performance "Liebestod".
Christophe Raynaud de Lage

Einen Monolog aus dem Mund von Angélica Liddell zu hören, ist eine dämonische Begegnung mit dem Sound des Spanischen: Da mischen sich die Laute wie Peitschenknallen, Kettenrasseln und Schlangenzischen. Zur Welt kam die kontroversielle Theatermacherin Angélica Liddell in Figueras, wo auch der Surrealist Salvador Dalí geboren wurde. Damals, 1966, hieß sie noch Angélica Gonzalés.

Tatsächlich ist ihr Künstlername eine Reverenz an Alice Liddell, das Vorbild für Lewis Carrolls Reisende im Kaninchenbau. Jetzt, ein halbes Jahrzehnt nach ihrem Gastspiel mit The Scarlet Letter, kommt Liddell wieder zu den Festwochen, mit einer Hommage an den großen Torero Juan Belmonte (1892–1962), der rund 1650 Stiere tötete und am Ende sich selbst: Liebestod – el olor a sangre no se me quita de los ojos – Juan Belmonte, Teil III von Milo Raus "Histoire(s) du Théâtre" am NT Gent.

Sie ist Vulva und Penis zugleich

Dieser Liebestod wird zur Orgie, zelebriert auf Basis von Richard Wagners Tristan und Isolde, und der Titelzusatz – "der Geruch von Blut geht mir nicht mehr aus den Augen" – bezieht sich auf Franck Mauberts Band Gespräche mit Francis Bacon, dem Maler der berühmten schreienden Päpste.

Wer nun noch mitberücksichtigt, dass Liddells 1993 gegründete Kompanie Atra Bilis Teatro die "Schwarze Galle" im Namen trägt, wird die grundlegende Freude der Künstlerin an nachtseitigen Referenzen kaum ableugnen wollen. Wiederholt hat sie in Wien gezeigt, wie sehr sie an die Macht der Katharsis glaubt und dass sie für Biederfrauen und Brandstifter hinreißende Rosskuren auf Lager hat: mit La casa de la fuerza im Jahr 2012 etwa, oder 2013 mit Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome de Wendy).

Emotionen, die jegliches Biedermeiertum immer schon zensiert, präsentiert Liddell auch bei Liebestod. Hier, erklärt sie im Gespräch für das Festival d’Avignon, spalte sie sich auf: "Einerseits bin ich ein Torero, ich habe eine blutige und erotische Beziehung zum Publikum." Auf dieser Ebene "hure" sie "phallisch" mit "dem Publikum herum". Aber wenn sie sich in der Performance vor dem Stier befindet, "lasse ich mich von ihm durchdringen, bin ich eine Vulva, die sich seinem Penis, seiner Macht, seiner köstlichen Verzückung hingibt". Quintessenz: "Ich will vom Stier besessen werden."

Eine verarmte Gesellschaft

Das klingt gar nicht nach dem, was gerade Norm in den Künsten ist. Zu deren aktuellem Zustand hat Angélica Liddell eine klare Meinung: "In der Kunst sind an die Stelle der Tragödie das Pflichtbewusstsein, der soziale Aktivismus getreten. Wir haben das Gesetz des Staates mit dem Gesetz der Schönheit verwechselt, was das Ende der Kunst bedeutet." Entsprechend fällt ihre allgemeine Diagnose aus: "Die heutige Gesellschaft ist eiskalt, leer und ignorant. Sie hat keinen Sinn für das Schöne, und es fehlt ihr an Sensibilität und intellektueller und ästhetischer Raffinesse." Daher sei diese Gesellschaft "vulgär, mittelmäßig" und "verarmt".

Juan Belmontes Stierkampf ist bei Angélica Liddell eine besondere Form der Kunst. Für ihn war der Stierkampf "eine spirituelle Übung", die ihn vergessen ließ, "dass er einen Körper hat; deshalb können die Gefühle die unendlichen Räume erreichen, von denen Pascal schrieb". So sucht auch sie selbst "nach überwältigender Begeisterung, dem blendenden Licht, diesem lyrischen Gefühl, das einen überschwemmt, wenn man liebt". (ploe)

Anklagen als schöne Kunst

Wiener Festwochen lassen verhandeln.
Wiener Festwochen lassen verhandeln.
Rafaela Proell

Für seine Gerichtsperformances ist Milo Rau berühmt. Sie fehlen auch in seinem ersten Programm als Festwochen-Leiter nicht. Das Publikum der Stadt schätzt das, daher sind die Termine für das erste von drei Wochenenden der Wiener Prozesse bereits ausverkauft. Das Thema lockt: Die korrupte Republik. Beim zweiten Termin von 7. bis 9. Juni im Odeon geht es um Anschläge auf die Demokratie und die Frage, welche Organisationen "faschistischen Charakters" in Österreich eigentlich aufgelöst werden müssten. Das dritte Prozesswochenende von 14. bis 16. Juni behandelt Die Heuchelei der Gutmeinenden: Da wird verhandelt, wann Aktivismus legitim ist.

Außerdem gibt es ab 21. Mai jeden Dienstag und Mittwoch im "Haus der Republik" (Volkskundemuseum Wien) Tage zur künftigen Entwicklung des Festivals. Zu den Themen dieser "Hearings" zählen "Demokratie versus Steuerung" und "Solidarität versus Cancel-Culture". (Helmut Ploebst, 10.5.2024)

Neue Hymne für Wien

Wiener Festwochen eröffnen auch mit Pussy Riot und Elfriede Jelinek.
Franzi Kreis

Steht auf, steht auf, ihr Töchter und Söhne! / Steht auf, steht auf für aller Menschen Recht. / Lasst den Faschisten keine Chance / und wehrt den Anfängen wie Felsen fest", wird es zur Festwochen-Eröffnung vor dem Rathaus schallen. Eine frische "Freie Republik Wien" braucht auch eine Hymne. Für die hat der Musiker Herwig Zamernik alias Fuzzman gesorgt, am 17. Mai wird sie groß vorgestellt.

Von "Liebe und Versöhnung", "aller Menschen Glück" und "Frieden" handelt sie auch. Es kann Entwarnung gegeben werden: Um "das alberne Völkische", wie Fuzzman sagt, geht es dabei nicht. Lasse man das weg, sei eine Hymne etwas Schönes, und Singen stärke die Gemeinschaft. Statt staatstragend klingt die Komposition auch mehr nach Gitarre am Lagerfeuer und DDR-Protestliedgut. Die Ausrufung der "Freien Republik Wien" ist die (von Fuzzman kuratierte) Eröffnung der Festwochen. Neben Musikern gestalten sie auch Aktivistinnen. (Michael Wurmitzer,10.5.2024)