Zumindest visuell wäre bei "Women at Point Zero" mehr drin gewesen.
Kurt Van der Elst

Ob es sie nicht schmerzt, im Gefängnis zu sitzen? Fatma, die schicksalsgebeutelte und doch taffe Protagonistin der Oper Woman at Point Zero, pariert auch diese Frage ihres Gegenübers bissig. "Wir alle leben im Gefängnis. Die meisten wissen es nur nicht", sagt die verurteilte Mörderin zu der jungen Filmemacherin, die sie seit rund einer Stunde auszuquetschen versucht.

Brachiale Gewalt

Es besteht kein Zweifel, dass Fatma mit dem Wort "alle" nur den weiblichen Teil der Bevölkerung meint: Sie lebt in einer Gesellschaft, in der brachiale, sexuelle und seelische Gewalt gegen Frauen von Gott und Staat geduldet wird. Die Via Dolorosa der Ägypterin ist mit solchen Barbareien geradezu übersät: Schon in Kindestagen hört sie im Schlafzimmer der Eltern die Fäuste fliegen; kaum geschlechtsreif, wird das Mädchen genitalverstümmelt. Nach dem frühen Tod der Eltern nimmt der Onkel das Heft in die Hand und schickt das talentierte Kind in die Schule, missbraucht es aber sexuell. Es folgt eine Zwangsehe mit einem Prügelgatten und die Flucht in die Prostitution, die Fatma immerhin finanzielle Unabhängigkeit sichert. Allein ein politischer Aktivist bringt ein Quäntchen Licht in ihr Martyrium: Er scheint Fatma zu lieben, fragt gar um ihre Meinung. Doch auch er sieht die Leidgeprüfte letztlich nur als Betthupferl. Es verwundert in diesem Pandämonium der Männergewalt nicht, dass Fatma eines Tages einen Aggressor in Notwehr ersticht.

Woman at Point Zero ist ursprünglich bereits 1977 als Buch erschienen: Die ägyptische Frauenrechtlerin Nawal El Saadawi hat damit ihrer Empörung über die herrschenden Verhältnisse Luft gemacht; auf rund 100 Seiten erzählt ihre Hauptfigur im Gefängnis ungeschminkt einer Psychiaterin aus ihrem Leben. 2022 hat die libanesischstämmige Komponistin Bushra El-Turk daraus eine kurze Oper kondensiert. Knapp eine Stunde dauert das Werk, das in Aix-en-Provence von der Uraufführungsrampe lief und in dieser Produktion nun auch seit Mittwoch bei den Wiener Festwochen gastiert.

Sein Energiezentrum hat der Abend im Jugendstiltheater in den zwei Darstellerinnen: Dima Orsho verleiht der verurteilten Fatma eine herbe Galligkeit und Grandezza, Carla Nahadi Babelegoto legt ihr Vis-à-vis, in der Oper die Filmemacherin Sama, als regen Forschergeist an. Auch akustisch kann dieses Duo durchaus Eindruck machen: Momente leidvoller Selbstoffenbarung gehen mit stimmlicher Inbrunst und Emphase einher.

Kaum Schauwerte

Was dieser Premiere indes abgeht, sind dramatische Spannungsgipfel. Dass im Zentrum dieses Abends eine lange Nacherzählung steht, lässt die Opernstunde wie ein ausgedehntes Rezitativ wirken. Verstärkt wird dieser Eindruck musikalisch. El-Turk lässt die beiden Frauen meist entweder sprechen oder einen vagen Singsang anstimmen, hinzu tritt ein atmosphärischer Soundtrack: Ausgerüstet mit abend- und morgenländischen Instrumenten webt das achtköpfige Ensemble Zar (Dirigentin: Kanako Abe) Klangtapeten, die stets maßgeschneidert zur Stimmung passen – genau aus diesem Grund aber bald schon nicht mehr auffallen.

Schade auch, dass diese "Multimedia-Oper" (Regie: Laila Soliman) kaum Schauwerte liefert. Zwar entsteht für das Ohr eine zusätzliche Ebene: O-Töne aus Interviews mit missbrauchten Frauen unterbrechen die Dialoge auf der Bühne immer wieder, reichern das triste Geschehen noch dokumentarisch an. Die Video-Projektionsfläche im Hintergrund wird dagegen nach einem agilen Beginn später eher selten genutzt; auch das Bühnenbild von Bissane Al Charif präsentiert sich denkbar karg. Dennoch: Schlussendlich engagierter Beifall vom Premierenpublikum. (Christoph Irrgeher, 23.5.2024)