An einem frühen Freitagnachmittag reicht die Schlange vor dem Wiener Café Central einmal um die Ecke.
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Auf eine Sache ist mittags in Wien Mitte Verlass. Vor der Filiale von Max & Benito in der Mall warten Menschen darauf, sich Burritos und Tacos zusammenstellen zu dürfen. Auch ich habe mir vor dem Geschäft schon die Beine in den Bauch gestanden, manchmal sicher eine Viertelstunde, obwohl ich eigentlich nicht länger als zehn Minuten anstehen möchte. Wieso ich mir das antue? Weil das Büro in der Nähe ist und ich weiß, dass der Stau von den Mitarbeitenden zügig abgearbeitet wird. Mittlerweile versuche ich, die Warterei zu umgehen. Ich vermeide die Rushhour, indem ich meinen Burrito eine halbe Stunde früher oder später abhole.

Die persönliche Schmerzgrenze? Sie liegt für jeden woanders, ergibt eine schnelle Umfrage auf Instagram und in der Familien-Whatsapp-Gruppe. Eine Kollegin gesteht, "sehr lange Wartezeiten" für ein ordentliches veganes Eis in Kauf zu nehmen, eine Bekannte würde sogar eine halbe Stunde warten. Einem anderen sind 15 Minuten Magengrummeln für den sagenumwobenen Ferhat-Döner schon zu viel, ein anderer hat die Faustregel aufgestellt: 15 Minuten steht er in Gesellschaft an, maximal drei Minuten allein.

Gelernt wird das Schlangestehen früh, im Kindergarten und in der Schule. Das Warten gilt allerdings weniger als eine österreichische als eine britische Urtugend. Wir erinnern uns: Selbst David Beckham reihte sich ohne großes Murren in die zeitweise zehn Kilometer lange Warteschlange derer ein, die sich 2022 von Queen Elizabeth II. verabschiedeten. Ob der Ex-Fußballer das auch für ein Figlmüller-Schnitzel tun würde?

In der Wiener Innenstadt wird nämlich besonders gern angestanden, scheint mir. Ich beschließe, die einschlägigen Hotspots abzuklappern. Los geht's am Freitagmittag beim Café Central: Ein Paar, das etwas ratlos am Ende der Schlange ansteht, ist im Begriff kehrtzumachen. "So haben wir uns das nicht vorgestellt", schütteln die beiden einträchtig die Köpfe. "Wir warten sicher nicht, um uns in ein Kaffeehaus zu setzen." Ich empfehle als Alternative den Bräunerhof. In der Stallburggasse hat sich meines Wissens noch nie eine Schlange gebildet.

Warten für "ein Stück Wiener Geschichte"

Eigentlich hätten das Paar Bescheid wissen müssen. Tripadvisor-Bewertungen des Wiener Café Central lesen sich so: "Man muss schon etwas Geduld mitbringen, um ein Stück Wiener Geschichte erleben zu können." 20 Minuten hat die Touristin gewartet, die diese Bewertung hinterlassen hat. Auch Maximilian und Jette aus Hamburg stehen schon ein Weilchen herum – sie wussten allerdings, worauf sie sich einlassen. Die Mittzwanziger wollten in der Woche zuvor reservieren, alles ausgebucht. Nun haben sie sich angestellt. In ihrer Heimatstadt wird gern vor der Elbphilharmonie und vor angesagten Lokalen Schlange gestanden, "aber in Hamburg würden wir das nie machen", grinsen die beiden. Wien sei eben etwas anderes. Das Kaffeehaus zahle sich aus, weiß Maximilian - er hat die österreichische Hauptstadt schon dreimal besucht. Und ja, beim Figlmüller und im Schlawiener seien die Plätze sicher, dank rechtzeitiger Reservierung.

Mir fällt auf: Kontakte scheinen die Wartenden nicht miteinander zu knüpfen, obwohl sie für eine gewisse Zeit eine Schicksalsgemeinschaft sind. Das hat vor einigen Jahren auch der deutsche Soziologe Andreas Göttlich festgestellt. Für die Universität Konstanz konstatierte er im Rahmen des Projektes "Warten – Zur Erforschung eines sozialen Alltagsphänomens", dass in vielen Alltagssituationen zwar alle auf dasselbe warteten, ein Gruppengefühl dabei aber nicht entstehe.

"Einmal in einem schönen Wiener Kaffeehaus sitzen", für diesen Traum steht so mancher Tourist an.
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Ich gehe weiter durch den ersten Bezirk. Je länger die Schlange, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich dahinter ein touristischer Hotspot verbirgt. So wie beim Café Demel. Dorothea aus Fulda steht mit Sohn und Enkel hier, es sind nur noch wenige Meter bis zum Eingang. Wie lange sie schon warten, wissen sie gar nicht so genau, das Zeitgefühl verschwimmt. Man einigt sich auf zehn Minuten. Wieso Dorothea hier ansteht? "Mein Traum war, einmal im Leben in einem schönen Wiener Kaffeehaus zu sitzen." Dass es das Demel wurde, war ein Zufall. Mutter und Sohn sahen die Schlange und entschieden: "Das muss gut sein." Warteschlangen vor Geschäften können die beste Werbung für ein Unternehmen sein. Dorothea würde sogar eine halbe Stunde herumstehen, wenn das Kaffeehauserlebnis passt.

Ein Freizeitvergnügen?

Wenn früher im Fernsehen Schlangen vor Geschäften zu sehen waren, dann als Ausweis der Mangelwirtschaft. Mittlerweile scheint das Geduldsspiel zu einem Freizeitvergnügen geworden zu sein. Man steht eben nicht mehr nur auf Postämtern (heute nur mehr mit Wartenummer) an, sondern auch für Kaffee, Schnitzel, Zimtschnecken, veganes Eis, Sneakers oder teure Handtaschen. Immer häufiger steckt ein Social-Media-Hype dahinter.

Die Geschichte vom BESTEN DÖNER DER WELT - Ferhats Original
Die beste Pizza der Welt:
Lukas

Der Erfolg von Ferhat Döner, wo bis zu 40 Minuten gewartet wird, war vor einigen Jahren von Food-Youtuber Lukas Galgenmüller angeschoben worden: Das Video "Die Geschichte vom besten Döner der Welt" hat nach zwei Jahren 1,3 Millionen Aufrufe. Als das junge deutsche Unternehmen Cinnamood im November vergangenen Jahres an der Mariahilfer Straße aufschlug, bildete sich Woche für Woche samstags eine lange Schlange quer über die Straße. Dabei handelt es sich um ein internationales Phänomen. In Florenz stehen Menschen im Eiscafé Vivoli Gelateria stundenlang für einen Affogato an, seit er vom reichweitenstarken New Yorker Reisefotografen Sam Youkilis entdeckt und auf Instagram gepostet wurde.

Für begehrte Produkte wird bereits seit über einem Jahrzehnt Schlange gestanden. In Hamburg sollen 2012 vor dem Apple Store etwa 2500 Personen für das iPhone 5 angestanden sein, nun sorgen auch Uhren für Aufläufe: Für die "Moonswatch" des Schweizer Uhrenkonzerns Swatch stehen sich Menschen seit zwei Jahren vor den Läden in aller Welt die Beine in den Bauch – die Uhr ist online nicht zu haben, der Kauf ist auf eine Uhr pro Person, Tag und Swatch-Store limitiert.

Bei Louis Vuitton und Co gehört der Umgang mit wartender Kundschaft zum Daily Business. Viele Luxusunternehmen lassen pro Verkäufer einen Kunden ins Geschäft. Die Konsequenz für alle, die keinen Termin vereinbart haben: Vor den Toren dieser Stores bilden sich Schlangen wie vor der Akropolis (na ja, zumindest fast).

Nein, hier gibt's nichts gratis. Gewartet wird vor dem Wiener Lokal Figlmüller trotzdem.
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Ich schlendere vorbei am Wüstenrot-Haus am Graben Nummer 20. Louis Vuitton ist hier vor einem Jahr eingezogen. Heute stehen gerade einmal vier Frauen vor dem Store, doch ein Schild an der Glastür ist ein Hinweis für das stete erhöhte Warteaufkommen hier: "Buchen Sie Ihren Termin online", darunter ein QR-Code. Einen Moment bin ich verführt, das Handy zu zücken. Dann schaue ich doch lieber auf einen Sprung im Bräunerhof vorbei. Ganz spontan, das geht dort nämlich. (Anne Feldkamp, 25.5.2024)