Das "Kaddish Requiem 'Babyn Jar'", das Oksana Lyniv dirigieren wird, erinnert an die Vernichtung von über 33.000 Jüdinnen und Juden.
Oliver Wolf

Es war alles sehr gut und versöhnend gemeint, allerdings wurde daraus ungeplant gleichsam der erste Debattenprogrammpunkt der Festwochen-Ära von Intendant Milo Rau.

Dabei ging es um zwei interessante Konzerte. Sie sollten symbolisch – im Sinne einer Friedensbotschaft – zusammenkommen: Das Kaddish Requiem " Babyn Jar", dirigiert von der Ukrainerin Oksana Lyniv, sollte in Gemeinschaft mit dem War Requiem von Benjamin Britten aufgeführt werden.

Da das SWR-Orchester bei Britten aber von Dirigent Teodor Currentzis hätte geleitet werden sollen, gab es Einspruch. Lyniv wollte mit Currentzis, der nach wie vor zum Krieg Russlands gegen die Ukraine schweigt, nicht in Zusammenhang gebracht werden.

Vor dem Requiem eine Todesfuge

Also wurde das Britten-Konzert abgesagt, und Babyn Jar, umgesetzt vom Kyiv Symphony Orchestra, bleibt ohne Gegenüberstellung der beiden Werke allein mahnend im Mittelpunkt. Die Festwochen entsprachen Lynivs Wunsch, aktuell nicht in einen inhaltlichen Kontext mit Currentzis gestellt zu werden.

Für die Wiener Aufführung des Kaddish Requiem, die am 2. Juni im Wiener Konzerthaus stattfindet, wird zusätzlich ein aktuelles zeitgenössisches Stück aus der Ukraine komponiert und aufgeführt.

Das Hauptwerk von Jevhen Stankovych, bei dem auch das Young Symphony Orchestra of Ukraine und der National Choir of Ukraine teilnehmen, weist auf eine historische Katastrophe hin, die sich auf dem heutigen Gebiet der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Jahr 1941 in der Schlucht Babyn Jar ereignete. Dort wurden über 33.000 Jüdinnen und Juden von deutschen Nationalsozialisten ermordet. Es gilt als das größte Einzelmassaker des Zweiten Weltkriegs in Europa. Dieses Verbrechen strahlt bis heute aus, die Identität unzähliger Opfer ist bis heute nicht geklärt.

Zum Funkgerät mutiert

Das vom ukrainischen Komponisten Jevhen Stankovych geschriebene Kaddish Requiem für Sprecher, Solisten, Chor und Orchester wurde 2016 in der Nationaloper in Kiew uraufgeführt. Das Werk wird, wie gesagt, im Konzerthaus nicht allein aufgeführt werden: Ihm wird eine Uraufführung von Evgeni Orkin vorangestellt.

Die Todesfuge von Paul Celan, welche die Atmosphäre in einem Vernichtungslager schildert, wird von Komponist Evgeni Orkin im gleichnamigen Konzert für Violine, Sprecher und Orchester verarbeitet.

Hierbei mutiert das Orchester zu einer Art Funkgerät der 1940er-Jahre. Die musikalischen Einwürfe und Zitate der beiden Solisten verschmelzen zu einer Erzählung, die leider auch heute noch Aktalität aufweist. (Ljubisa Tošic)

Tränen für die Prinzessin

Uraufführung als Wiendebüt: "Lacrima" von Caroline Guiela Nguyen.
Jean Louis Fernandez

Caroline Guiela Nguyens Einstieg in Wien kommt gleich als große Uraufführung in die Halle E des Museumsquartiers: mit einer Produktion des Théâtre National de Strasbourg, das die in Frankreich äußerst erfolgreiche 42-Jährige seit Herbst 2023 leitet. Die Festwochen treten als Koproduzent von Lacrima auf.

Erzählt wird die Geschichte der Herstellung eines hochnoblen britischen Brautkleids, vor allem aus der Perspektive von üblicherweise eher wenig beachteten Beteiligten – darunter die Schnittzeichnerin und eine Spitzenklöpplerin aus Frankreich sowie ein indischer Handsticker. Es geht um prekäre Arbeitsbedingungen in diesem Top-Secret-Projekt der Haute Couture für eine Prinzessin, um Lebensträume und Gewalt im Alltag jener, die das tolle Heiratskostüm zustande bringen.

Nguyen besitzt ein feines Gespür für Theaterinszenierung. Dies hat sie etwa 2017 mit Saigon bewiesen, das auch beim renommierten Festival d’Avignon zu sehen war, oder 2022 an der Berliner Schaubühne mit Kindheitsarchive über vietnamesische Kinder, die in Deutschland adoptiert wurden. (Helmut Ploebst)

Würdigung: Der scharfe Karl Kraus

Die Festwochen würdigen Karl Kraus mit einer Vielzahl von Lesungen.

Wenn in zwölf Jahren sein 100. Todestag gefeiert wird, möglichst mit mehr Pfeffer als jetzt sein 150. Geburtstag, wird man sich wohl dieser Hommage an Karl Kraus bei den Festwochen 2024 entsinnen. Fünf "Vorlesungen" – schmissig als "Lectures" bezeichnet – hat Claus Philipp, einst Kulturchef beim STANDARD, konzipiert.

Es lesen Cornelius Obonya, Florian Scheuba (26. Mai), Petra Slottova, Samouil Stoyanov (2. Juni), später unter anderen Clemens J. Setz und Thea Ehre. Wer will, kann sich mit der Lektüre der Fackel von "Anfang Juni 1924" (Nr. 649–656) vorbereiten, in der Kraus nicht nur seinen Drucker Georg Jahoda zu dessen 60er feiert, sondern auch das 25. Fackel-Jahr und seinen eigenen 50. Geburtstag: mit kommentierter Publikation diverser Gratulationen.

Der maximal unbeliebte respektive verehrte Sprachfanatiker Kraus hat nie eine Nachfolge gefunden. Zur Entschädigung wird hier aus Die Unüberwindlichen und Die letzten Tage der Menschheit gelesen, weiters u. a. Kraus’ 700. Vorlesung "remixed" und seine Offenbachiaden vergegenwärtigt. (Helmut Ploebst, 24.5.2024)