Ganz Deutschland ist empört und überrascht. Die vermeintliche Elite, die Möchtegern-Schickeria, die geld- und erfolgsverwöhnte Jugend grölt auf der Urlaubsinsel Sylt unverhohlen Naziparolen. Huch! Das, was man bisher vom Bierzelt kannte, hat plötzlich in schicke Clubs Einzug gehalten? Die Meme-Seiten auf Instagram und die humorbegabten Kommentatoren auf anderen Plattformen haben einen Lauf. "Auf meine Yacht darfst du nur mit Ahnentafel!" oder "Perfektes Werbevideo für die Erhöhung der Erbschaftssteuer auf 100 Prozent. Vielleicht sogar auf 130 Prozent", wird kommentiert und mokiert.

Die Krawallzeitung Bild schrieb von "widerwärtigen Szenen, die einen fassungslos zurücklassen". Die deutschen Politiker und Politikerinnen aller Couleur sind "geschockt", "besorgt" oder "angewidert". Der Schock und die Überraschung sitzen tief, war die Erzählung der vergangenen Jahrzehnte doch eine andere: Die Besorgten und die Abgehängten wählen die extremen Rechten und Rechtsradikalen. Aus Angst, dass ihnen die wenigen Ressourcen weggenommen werden, aus Unwissenheit, aus Frust.

Die Analysen, und vor allem die journalistischen Reportagen, wurden gerne mit einer ordentlichen Portion Klassismus garniert: Pfui, wie geschmacklos ist doch der biersaufende Pöbel! Wie uninformiert muss man sein, um auf die platten Parolen der Rechtspopulisten hereinzufallen, wie ungebildet, um nicht zu wissen, dass sich Geschichte wiederholt?!

Rechnung geht nicht auf

Doch diese Erzählung war nie die volle Wahrheit. Ganze 22 Prozent der 14- bis 29-jährigen Deutschen (unter jenen, die in der Umfrage klar eine Parteipräferenz äußerten) würden bei der nächsten Wahl die AfD wählen. Die Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative für Deutschland, gilt übrigens seit April 2023 als "gesichert rechtsextremistisch" und wird von Experten als extremer als die Mutterpartei eingestuft – eine "beachtliche" Leistung. In Österreich hat die extrem rechte FPÖ erneut einen Höhenflug: Die Umfragen verorten sie derzeit ungebrochen bei rund 30 Prozent. Eine einfache Rechnung reicht, um zu erkennen, dass nicht alle Sympathisanten, Wähler und Befürworterinnen der Politik und Ideologie der Rechtsextremisten sogenannte Abgehängte, Besorgte und Frustrierte sein können.

Selbstverständlich gab es schon immer unter den Trägern von Poloshirts, weißen Blusen und legeren, über die Schultern geworfenen Tennis-Sweatern Anhänger und Befürworterinnen von menschenverachtenden Ideologien. Genauso wie in allen anderen gesellschaftlichen Schichten. Wer wegen des Videos aus Sylt überrascht ist, war bisher schlicht naiv. Doch geschockt sollten wir alle sein. Und zwar ob der Unverhohlenheit, mit der die kleine Nazi-Party in einem beliebten Club gefeiert und gefilmt wurde. Wer so agiert, fühlt sich im Recht und sehr, sehr sicher. (Olivera Stajić, 24.5.2024)