"Israel muss sofort seine Militäroffensive im Bezirk Rafah beenden": Klare Worte zur Lage im Gazakrieg sprach Nawaf Salam, Präsident des Internationalen Gerichtshofs (IGH – nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Strafgerichtshof ICC bzw. IStGH) in Den Haag, am Freitag. Grund sei die humanitäre Lage im Großraum Rafah, die das Gericht als "außergewöhnlich ernst" einstuft.

Nicht nur in Rafah, auch im gesamten restlichen Gazastreifen (Bild: Khan Yunis) ist die Zerstörung massiv. Der IGH fordert Israel auf, seine Offensive nun zu stoppen.
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Von den 15 Richtern hatten 13 für die Verhängung dieser drastischen Maßnahme gestimmt. Dagegen waren nur der israelische Ad-hoc-Richter Aharaon Barak sowie Vize-Gerichtspräsidentin Julia Sebutinde, die schon im Jänner alle Maßnahmen gegen Israel aus formellen Gründen abgelehnt hatte.

Der Gerichtshof belässt es nicht beim geforderten Rückzug aus Rafah. Er fordert Israel auch auf, den Grenzübergang Rafah sofort für humanitäre Hilfe und andere dringend nötige Dienste – gemeint ist wohl die Überstellung von Kranken nach Ägypten – zu öffnen.

Fokus auf Rafah-Offensive

Südafrika hatte den Gerichtshof im Mai zum wiederholten Mal angerufen und verlangt, dass er Israel die umgehende Einstellung aller Kampfhandlungen im Gazastreifen verordnet. So weit wollten die Richter nicht gehen: Sie konzentrierten sich auf die Offensive im südlichen Rafah. Die Evakuierungsversuche Israels reichten nicht aus, um die humanitäre Krise zu mindern, argumentierte das Gericht. Im Gegenteil: Laut verschiedenen UN-Berichten sei die Lage seit der Invasion Rafahs sogar schlimmer als zuvor. Daher müsse die Offensive gestoppt werden.

Südafrika wirft Israel vor, die Konvention gegen Völkermord zu verletzen, und hat den IGH im Dezember 2023 angerufen, damit er über diese Klage entscheidet. Bis diese Entscheidung gefallen ist, wird der Krieg in Gaza aber wohl bereits vorüber sein, daher hat Südafrika mehrere eilige Maßnahmen gegen Israel beantragt und im Jänner und März damit teilweise Recht bekommen: Unter anderem hatte der Gerichtshof Israel aufgetragen, mehr zu tun, um hohe Opferzahlen unter Zivilisten zu vermeiden und die humanitäre Krise in Gaza einzudämmen.

Südafrika war nun der Meinung, dass das alles nicht ausreiche. Der Beginn der Invasion in Rafah im Süden Gazas habe eine völlig neue Lage geschaffen, die nun vom Gericht neu zu bewerten sei, argumentierte der Kläger. Der Gerichtshof schloss sich dieser Ansicht an.

Israels Verpflichtungen

Israel hat die Genozid-Konvention unterzeichnet und ratifiziert, ist also dazu verpflichtet, Völkermord zu verhüten und mitzuhelfen, dass er bestraft wird – vor allem in der eigenen Sphäre. Die Maßnahmen, die das Gericht Israel auferlegt hat, sind bindend. Sollte Israel sich jedoch weigern, gibt es für den Gerichtshof keine Mittel, das Recht durchzusetzen.

Es gibt aber andere Druckmittel – und sie sorgen in Israel für einige Nervosität. Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat und durch einzelne Staaten sind möglich. Vor allem jene Länder, die Israel finanziell oder militärisch unterstützen, könnten unter Druck kommen: Sie müssen sich dann vorwerfen lassen, Beihilfe zu rechtswidrigem Verhalten zu leisten.

Israel, das nicht nur in Gaza kämpft, sondern auch stets mit der Gefahr neuer Angriffe seitens des Iran und seiner Verbündeten leben muss, kann es sich nicht leisten, zum Paria zu werden.

Nervosität in Jerusalem

Zwar gibt sich Netanjahu selbstsicher und betont, ungeachtet der Zurufe aus Den Haag weiterzukämpfen. Dass die USA als wichtigster Verbündete Israels den Vorstoß in Rafah aber ebenfalls von Anfang an nicht goutiert haben, kann auch die am weitesten rechts stehende Regierung, die Israel je hatte, nicht kaltlassen: Denn ein Veto der USA im UN-Sicherheitsrat, das Israel vor Strafmaßnahmen bewahrt, ist dadurch nicht mehr sicher.

Das Urteil des IGH kommt mehrere Tage nach einer umstrittenen Entscheidung im Internationalen Strafgerichtshofs (IstGH), der sich ebenfalls in Den Haag befindet: Dort hat Chefankläger Karim Khan Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant beantragt, aber auch gegen die drei führenden Kommandanten der Hamas. Über diese Anträge muss ein Richtersenat nun entscheiden. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 24.5.2024)