Karl Kraus sprach Verdammungsurteile über das Pressewesen nicht nur für seine, sondern auch für alle nachfolgenden Zeiten – unter anderem als Vortragskünstler.
Bibliothek im Rathaus

Die Annahme, dass im "kleinsten Schmierfinken" bereits der Keim für den Weltuntergang gelegt sei, ist ebenso grundlegend wie niederschmetternd. Sie entstammt dem polemischen Wirken des Satirikers Karl Kraus – und beruht auf der Überzeugung, dass nichts käuflicher sei als eben das Wort. Beweise ist der Herausgeber der Fackel keine schuldig geblieben.

Kraus' Geburtstag jährt sich heuer zum 150. Mal. Die Wiener Festwochen nehmen das Jubiläum zum Anlass für eine Reihe von Lectures. Die erste, mit "Die Unüberwindlichen" betitelt, galt einem geschworenen Lieblingsfeind Kraus', dem ungarisch-stämmigen Zeitungsmagnaten Imre Békessy.

Im Schwitzkasten der Journalistik

Dieser nahm die Erste Republik in den Schwitzkasten seiner Journalistik. Seine Revolverblätter waren von jeher den "Presserzeugnissen" ähnlich, die Kraus schon zu Anfang des Jahrhunderts zerpflückte. Als solche lebten die Postillen von Gefälligkeiten – und profitierten durch die Zuwendungen jener, die sich das bisschen Wohlwollen, das aus Sudelfedern floss, auch noch teuer erkauften.

Der Witz steckt im "alias". "Von der Presse- zur Erpresserfreiheit" nennt sich der zweite Titel-Teil der im Wiener Odeon abgehaltenen Doppellesung. Cornelius Obonya mimt im Anzug eines unternehmenden Menschen den schmierigen Verleger anno 1927. Ihn flankierend, gibt STANDARD-Kolumnist Florian Scheuba allerlei Denkwürdigkeiten aus dem Verlegerleben Wolfgang Fellners lesend zum Besten. Bei Letzterem handelt es sich um den zumindest in Wien weltberühmten Herausgeber von mehr oder minder gratis zur Verteilung gelangenden Boulevardblättern.

Scheuba mimt das Double eines vor Vitalität platzenden Inseratenkeilers, der von sich zu sagen weiß, dass er eher "der kalifornische Typ" sei. Dabei reminisziert er in hunderterlei wohlrecherchierten Details das Fellner'sche Geschäftsmodell. Von diesem können gerade auch die heimischen Politiker ein Lied singen. Das Sittenbild, das der Kabarettist, von einem milden Lächeln überschienen, entstehen lässt, wäre eines Kraus würdig gewesen. Jetzt hat es wenigstens seinen Scheuba gefunden. Nicht das Schlechteste, was der hiesigen Öffentlichkeit passieren kann.

Verlegerkanaille

Ein Tisch, zwei Herren, zwei Zeitalter ein- und desselben Pressewesens: Die absichtsvolle Verquickung von "Börse und Bordell", das "Gulasch von Tanz und Pflanz", welches der Boulevard bis heute zubereitet, mag dem Prinzip nach die oder das Nämliche geblieben sein. Kraus zimmerte aus der Causa Bekéssy sein Drama Die Unüberwindlichen (1927/28): gewürzt durch die Rechtfertigungssuaden eines notorischen Erpressers und Betrügers. Obonya spielt die Verlegerkanaille von vor hundert Jahren mit dem schmatzenden Behagen eines Edelzuhälters. "Ich bin die Wahrheit!", weil: "Man schlägt sich so durch!" Noch schlagender sind allein Schlagzeilen, die mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun haben – Scheuba präsentierte Kostproben aus dem Fellner'schen Verlagshaus.

Kraus hatte seinem Widersacher Békessy über die geringe Entfernung hinweg zugerufen: "Hinaus aus Wien mit dem Schuft!" Und es kam auch wirklich so, wie es der Satiriker – auf eine höhnische Frage hin – gefordert hatte. Ob ein genauerer Vergleich der beiden Wertschöpfungssysteme Békessys und Fellners nicht auch kolossale Unterschiede zutage fördern müsste – die wie eine Feder gespannte, rund einstündige erste Kraus-Lecture blieb die Antwort auf eine solche Frage schuldig.

Die Karl-Kraus-Lectures, die Festwochen-Dramaturg Claus Philipp verantwortet, haben jedenfalls sehr zufriedenstellend begonnen. Die nächsten Lesungen – sie folgen im Wochenabstand aufeinander – behandeln unter anderem das Vortragsgenie Karl Kraus (mit Petra Slottova und Samouil Stoyanov am 2. Juni) und versprechen weiters "Sprachanalysen und Textsprengungen" unter Beteiligung von Köpfen wie Clemens J. Setz und Barbara Zeman. (Ronald Pohl, 26.5.2024)