Festivalgewinner Sean Baker mit seiner Goldenen Palme in Cannes.
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Sean Baker ist ein "Meister des Chaos". Mit diesen Worten wurde der US-Regisseur bei der Pressekonferenz nach der Uraufführung seines achten Films Anora in Cannes von einem seiner Schauspieler charakterisiert. Eine amerikanische Sexarbeiterin gerät an einen verwöhnten Russen in New York. Das Chaos, das sich daraus ergibt, fand die Jury unter der Leitung von Barbie-Regisseurin Greta Gerwig so überzeugend, dass es für Anora am Samstagabend die Goldene Palme gab.

Sean Baker hat ein Faible für Außenseiter, und er interessiert sich mit Anora nicht zum ersten Mal für Sexarbeit. In diesem Fall war ein Buch mit dem Titel Modern Whore eine der Inspirationen. Vor drei Jahren war er auch schon in Cannes vertreten, damals mit Red Rocket, in dem es um einen Pornodarsteller geht, der einen sehr langen und zunehmend verzweifelten Anlauf zu einem Comeback unternimmt. Glamour und Elend passen bei Baker meistens gut zusammen. Größere Bekanntheit erlangte er 2017 mit The Florida Project, in dem er von der prekären Existenz einer alleinerziehenden Mutter erzählt, im Hintergrund immer das künstliche Paradies von Disney World.

Realismus auf wilden Ritten

Man könnte Baker durchaus als einen Sozialrealisten bezeichnen, allerdings schickt er seinen Realismus gern auf wilde Ritte. Zum Kino kam er auf orthodoxen Wegen: Geboren 1971 in New Jersey, studierte er Filmregie an der New York University. Sein erster Film Four Letter Words etablierte bereits ein Leitmotiv: das Interesse für Sprache, besonders für Slang. Seine Drehbücher sind Milieustudien, die er dann gern abheben lässt. Seine Frau Samantha Quan steht ihm dabei als Produzentin zur Seite.

Von den Dreharbeiten zu Anora hieß es provokant, Baker und Quan hätten höchstselbst Sexpositionen vorgemacht – Intimitätskoordination am Set war danach nicht mehr nötig. Gleichzeitig spricht Baker aber auch häufig von der "Verantwortung", in der er sich als ein Filmemacher außerhalb der Industrie sieht, der die Schattenseiten des amerikanischen Traums in ein oft surreales Farbenspiel überführt.

Baker äußerte sich in Cannes auch ausdrücklich zu den politischen Implikationen von Anora. Sexarbeit wird in den USA immer noch stark kriminalisiert, er setzt sich für Straffreiheit ein. Das Festival in Cannes begann mit Erwartungen hinsichtlich einer stärkeren Berücksichtigung von #MeToo-Positionen. Es endete mit einer Pointe: Anarchische US-Plutokratie-Kritik findet Romantik in käuflichen Körpern. (Bert Rebhandl, 26.5.2024)