Das 77. Filmfestival von Cannes nähert sich dem Ende. Am Samstagabend werden die Preise vergeben. Bis dahin heißt es noch zittern, auch für den Wahlwiener Mo Harawe, dessen Debüt The Village Next to Paradise im Wettbewerb Un Certain Regard Preischancen hat.

Im Hauptwettbewerb ließ sich heuer eine Tendenz zum Grandiosen und zum Genrekino feststellen, nicht nur bei Francis Ford Coppolas Megalopolis, sondern auch bei den sogenannten Realisten: Andrea Arnold mischt eine kräftige Prise Magie in ihren Film Bird über Jugendliche aus armen Verhältnissen, und Sean Bakers Anora zieht die Romanze über eine Sexarbeiterin und einen jungen Oligarchen fast schon als Gangsterkomödie auf.

Mikey Madison in Sean Bakers
Mikey Madison in Sean Bakers "Anora", der bei der internationalen Kritik sehr gut ankam.
AP

Genrefilmelemente ziehen, das weiß man in Cannes schon seit einigen Jahren. Heuer war von Musical bis Bodyhorror alles dabei, und vieles war auf (musikalischen) Effekt getrimmt: Der Soundtrack von Cannes rangiert irgendwo zwischen chinesischen Arbeiterinnenliedern (in Jia Zhangkes dialogarmem Liebesepos Caught by the Tides) und Popmusik aus den 1980ern, etwa in den Filmen von Yorgos Lanthimos und Gilles Lellouche. Inspiriert von der unüberschaubaren Menge an Popsongs in den Wettbewerbsfilmen ein Resümee in konkreten Zahlen, die Cannes heuer bewegt haben:

Jahre

44 Jahre nach dem Kultfilm American Gigolo hat Paul Schrader wieder Richard Gere angeheuert. In seinem Wettbewerbsfilm Oh, Canada spielt Gere einen schwerkranken Regisseur, der sich für eine Dokumentation an sein Leben zurückerinnert. Getrübt durch die Medikamente sind seine Erinnerungen unzuverlässig, die Zeitabfolgen verschwimmen. Er besteht darauf, dass seine Frau (Uma Thurman) ihm beständig zuhört, während er vor ihr seine zahlreichen Affären ausbreitet. Trotz der vielversprechenden Kammerspielanordnung scheitert Schrader schlussendlich an seinem uninteressanten Skript.

30 Jahre hat es gedauert, bis nach Shaji N. Karuns Swaham wieder ein indischer Film in den Wettbewerb von Cannes Eingang gefunden hat. Die 36-jährige Dokumentarfilmregisseurin Payal Kapadia hat mit ihrem Spielfilmdebüt All We Imagine as Light den Bann gebrochen. All We Imagine as Light feierte am Donnerstagabend Premiere und porträtiert auf eindringliche Art und Weise das Leben dreier befreundeter Krankenschwestern in Mumbai, die verschiedenen Generationen entstammen und mit persönlichen und gesellschaftlichen Problemen hadern.

Payal Kapadia ist die erste indische Regisseurin im Wettbewerb von Cannes.
Payal Kapadia ist die erste indische Regisseurin im Wettbewerb von Cannes.
AFP/CHRISTOPHE SIMON

Minuten

22 Minuten dauerte die längste Standing Ovation in der Geschichte des Filmfestivals. Bekommen hat sie Guillermo del Toros Pans Labyrinth. Michael Moore ist der zweite auf dem Treppchen, sein Palmen-Gewinner 2002 Fahrenheit 451 wurde mit 20 Minuten Applaus belohnt. Heuer ging es laut dem Magazin Vulture kaum über zehn Minuten hinaus. Führende sind Coralie Fargeats feministischer Bodyhorrorfilm The Substance mit einer herausragenden Demi Moore (elf Minuten) und Jacques Audiards Kartell-Musical Emilia Pérez mit zehn Minuten. Am wenigsten Applaus gab es mit dreieinhalb Minuten bei Paul Schraders zähem Bekenntnisfilm Oh, Canada.

168 Minuten musste das Publikum im heuer längsten Wettbewerbsfilm, Mohammad Rasoulofs iranischem Politdrama The Seed of The Sacred Fig, ausharren. Knapp darauf folgen Gilles Lellouches Kleinkriminellenromanze L'Amour Ouf (166 Minuten) und Kinds of Kindness, ein Episodenfilm mit makabren Fabeln des Griechen Yorgos Lanthimos mit 165 Minuten. 81 Minuten kurz ist Michel Hazanavicius' Animationsfilm The Most Precious of Cargoes über ein Findelkind, das das Leben eines Holzfällers und seiner Frau auf den Kopf stellt. Er beschloss am Freitagabend den 22 Filme starken Wettbewerb.

Summen

120 Millionen Dollar hat Megalopolis gekostet, das durch den Verkauf eines Weinguts selbstfinanzierte Herzensprojekt von Francis Ford Coppola, das heuer in Cannes die Gemüter gespalten hat. Am Ende aber fiel das Urteil weitgehend positiv aus oder, um es mit der Variety-Kritikerin Jessica Kiang zu sagen: "It may not be a good film, but it is a lot of film." Die in New Rome angesiedelte Antike-Science-Fiction über eine untergehende Großmacht und die Bedeutung von Familie wirkt derart kurios und aus der Zeit gefallen, dass sie mit Sicherheit ihre Kultfolgschaft findet, selbst wenn sie es wohl kaum schaffen wird, die Kosten einzuspielen.

13 Millionen Dollar billig war der neue Film The Shrouds von David Cronenberg. Das zumindest erwiderte der Kultregisseur bei einem Interview auf dem Dach des Marriott-Hotels am Mittelmeerstrand auf die Frage, ob er auch ein Megaprojekt wie Coppola im Köcher habe. Nein, habe er nicht. Er würde niemals so viel für einen Film ausgeben. Dabei sieht Cronenbergs persönlichster Film – er verarbeitet darin wie Coppola den Tod seiner Ehefrau – gar nicht billig aus. Die Ausstattung ist exquisit und technisch auf der Höhe der Zeit, bis zum Tesla, der einen prominenten Platz einnimmt.

Gut bebrillt: David Cronenberg mit seinen Stars Vincent Cassel und Diane Kruger.
Gut bebrillt: David Cronenberg mit seinen Stars Vincent Cassel und Diane Kruger.
EPA/SEBASTIEN NOGIER

Sterne

3,3 Sterne von vier möglichen haben heuer zwei Filme im berühmten Pressespiegel von Screen Daily. Gleichauf an der Spitze stehen Payal Kapadis All We Imagine as Light und Anora von Sean Baker. Der Amerikaner wurde mit sozialrealistischen Filmen wie The Florida Project berühmt. In Anora folgt er seiner Protagonistin, der Sexarbeiterin Ani, wie sie in eine überstürzte Ehe mit einem russischen Oligarchensöhnchen stolpert, um gleich darauf die Schläger von dessen Familie am Hals zu haben, die die Ehe annullieren möchten. Hauptdarstellerin Mikey Madison trägt die Gangsterkomödie mit Sozialdrama-Anstrich mit ihrer exzessiven Energie. Am unteren Ende des Spiegels sammeln sich die französischen und italienischen Regisseure Gilles Lellouche, Paolo Sorrentino und Christophe Honoré.

Menschen

200.000 Besucher und Besucherinnen sollen es sein, die das 70.000 Bewohner zählende Städtchen während des Festivals besuchen. Keine Frage, es wuselt in Cannes. Menschenmassen, Absperrungen, Zugangskontrollen, Polizei mit Maschinengewehren, aufgetakelte Starlets vor rotem (Teppich) oder blauem (Meer) Grund. Allein der Filmmarkt, der im Bauch des riesenhaften Festivalpalasts stattfindet, zählte heuer einen Rekord von 15.000 Branchenakkreditierten. Während oben das Festival stattfindet, wird unten gefeilscht. Besonders begehrt ist Emilia Pérez, wofür Netflix stolze zwölf Millionen Dollar geboten hat. Wahrscheinlich spekuliert der Streaminggigant schon auf die Goldpalme. Ob's eintrifft, wird sich am Samstagabend zeigen. (Valerie Dirk aus Cannes, 24.5.2024)