Dieses Bein gehört Cate Blanchett, die auf dem roten Teppich in Cannes ihre Schleppe lüpfte, um die Farben der Palästina-Flagge zu hissen.
Daniel Cole/Invision/AP

Politik solle, so der künstlerische Leiter von Cannes, Thierry Frémaux, doch bitte schön nur auf der Leinwand stattfinden. Deshalb verbannte das Festival heuer sämtliche Zeichen von Solidarität mit den akuten Konfliktherden in Gaza und der Ukraine. Keine Pins wie bei den Oscars, keine Palästinensertücher wie bei der Berlinale, keine Ansprache von Wolodymyr Selenskyj wie noch vor zwei Jahren waren an der Croisette zu erwarten. Und dann kam Cate Blanchett, lüpfte ihre Schleppe und schummelte so doch noch eine Solidaritätsbekundung mit Palästina auf den roten Teppich.

Und das ist gut so, ganz egal ob man einer Meinung mit Blanchett ist. Denn Politik findet niemals nur auf der Leinwand statt, sondern auch davor und dahinter. Und auf Filmfestivals treffen die politischen Diskurse aufeinander. Schon der Gründungsmythos des 1939 geplanten und 1946 erstmals veranstalteten Festivals von Cannes besteht darin, ein Kino-Bollwerk für die freie Welt zu sein – in Abgrenzung zu den einst faschistisch und bolschewistisch vereinnahmten Filmfestivals von Venedig und Moskau. Frankreich hat sich damals wie heute auf ein Packerl mit den USA geworfen, um die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks im Kino zu feiern.

Nebenprodukt dieser Geschichte ist ein nachsichtiger Geniekult, der von vielen seit Jahren kritisiert wird. Heuer hat Frémaux der Kritik erstmals stattgegeben, indem er Judith Godrèches Kurzfilm Moi Aussi vor der Eröffnung der Schiene "Un Certain Regard" zeigte und sich während der Einführung fast schon anbiederte. Freilich passte der Film denn auch zur MeToo-light-Haltung des Festivals: Zwänglerisch poetisch setzt er Opfer von Übergriffen und Godrèches Tochter als Nymphe im weißen transparenten Kleid in Szene. Seinen Zweck hat Moi Aussi dennoch erfüllt, wenn auch weitere MeToo-Bekundungen, die derzeit im "cinéma français" schlummern, ausblieben.

Politische Persönlichkeiten

Auf einem internationalen Filmfestival kommen außerdem nicht nur Filmschaffende zusammen, sondern politische Persönlichkeiten. Da wäre etwa der Iraner Mohammad Rasoulof, der in seiner Heimat zu acht Jahren Haft verurteilt wurde, nun aber geflohen ist und der Premiere seines regimekritischen Films The Seed of the Sacred Fig am letzten Festivaltag laut Berichten beiwohnen wird. Da wäre Ali Abbasi, auch ein Exil-Iraner aus Dänemark, der Donald Trump mit seinem Film The Apprentice zu einer Klage gereizt hat, aber darauf ganz locker erwiderte: "Alle reden darüber, dass er viele Leute verklagt hat, aber sie reden nicht über seine Erfolgsquote."

Der Regisseur Ali Abbasi hat keine Angst vor einer Klage Donald Trumps.
AFP/LOIC VENANCE

Der russische Exilant Kirill Serebrennikow stellte mit Limonov einen Film über einen Polit-Punk-Poeten vor, und Oliver Stone, von dem erst kürzlich bekannt wurde, dass einige Polit-Dokus, an denen er beteiligt war, sehr nach Auftragswerken von Diktatoren riechen, zeigte seine neue Doku Lula über den brasilianischen Präsidenten außer Konkurrenz.

Cate Blanchett lüpfte nicht nur das Kleid, sie sprach auch davon, wie wichtig die Inklusion von Regisseurinnen und minoritären Gruppen in der obersten Etage der Filmbranche ist. In der kanadischen Polit-Posse Rumours spielt die Australierin übrigens eine deutsche Kanzlerin, die sich gemeinsam mit den G7-Kollegen und der EU-Kommissionspräsidentin in einem wagnerianischen Wald mit onanierenden Zombies, Künstlicher Intelligenz und der Absurdität einer präapokalyptischen Weltpolitik herumschlägt. Na, wenn das mal kein Kommentar auf die kommenden Europawahlen ist. (Valerie Dirk, 24.5.2024)