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Christa Koenne, Leiterin der Pisa-Science-Gruppe Österreich, über die vor der Tür stehende Studie Pisa III, eine Gesamtschule in zwei Etappen bis 15, rollenkonfuse Lehrer, geglücktes Leben und Klowand-Sprüche, die heute nicht mehr gelten. Mit ihr sprach Lisa Nimmervoll. *****

STANDARD: Muss sich Österreich vor dem 4. Dezember fürchten? Da wird die neue Pisa-Studie präsentiert.

Koenne: Fürchten muss sich überhaupt niemand, denn Pisa gibt zwar Ergebnisse kund, auf die man reagieren soll, das ist vernünftig, aber mit Angst soll man auf gar nichts reagieren, denn dann macht man nicht das Richtige.

STANDARD: Diesmal liegt der Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Fächern. Prompt geistern schon erste Gerüchte herum, wir seien noch schlechter als bei den letzten Studien.

Koenne: Es ist absolut tabu, vor der Veröffentlichung etwas zu sagen. Sie werden daher von mir nichts hören. Ich bin optimistisch. Ich bin keine pragmatisierte Apokalyptikerin.

STANDARD: Sie lehren an der Uni Klagenfurt zum Thema „Prüfungskultur“. Wie prüft man denn in Österreich?

Koenne: Traditionell. Es gibt die üblichen Überprüfungsformen – Schularbeiten, Tests, Stundenwiederholungen –, und es gibt einen Auftrag, die Mitarbeit von Schülerinnen und Schülern als wesentliches Kriterium für die Beurteilung herzunehmen. Das führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler sich als ständig Geprüfte erleben. Das widerspricht einer Lernsituation. Schüler müssen sich trauen, ihre Fehlvorstellungen zu nennen, dann kann ich an ihrem Wissenstand anknüpfen. Wir brauchen eine Kultur, in der es getrennte Lern- und Prüfungsphasen gibt. Vielleicht auch eine Trennung der Personen: die lehren und die prüfen.

STANDARD: Was bedeutet das?

Koenne: Wenn es uns nicht gelingt, dass wir diese Rollenkonfusion zwischen Coach und Beurteiler sauber kriegen, dann wissen die, die mit uns arbeiten, nicht, mit wem sie es zu tun haben. Will mir die etwas beibringen oder kriege ich dafür ein Zertifikat mit allen Konsequenzen?

STANDARD: Unterrichtende und prüfende Lehrer – das setzt klar definierte, vergleichbare Bildungsstandards voraus.

Koenne: Darum werden wir auch nicht herumkommen, sonst haben Zeugnisse keine Aussagekraft. Wir alle erleben, dass wir in den AHS die Zeugnisse der Volksschulen nicht mehr wirklich als das Maß für die Vorkenntnisse nehmen können, und das setzt sich fort bis an die Universitäten, die sagen: Wir verlassen uns auf eure Zeugnisse nicht. Noten sind ja keine pädagogische Maßnahme, Noten sind eine gesellschaftliche Maßnahme, die der Kommunikation nach außen dienen, und wenn die nicht klare Informationen geben, dann führen sie sich selbst praktisch ad absurdum. Wenn sie aussagekräftig sein sollen, dann braucht es verbindliche Normen, also Standards. Für die innere Kommunikation brauchen wir eine Feedback-Kultur, um Schülern zu sagen: Das sind deine Stärken und das deine Schwächen – am besten im Gespräch.

STANDARD: Die Industriellenvereinigung fordert ab der fünften Schulstufe das Fach „Naturwissenschaften und Technik“, weil es in diesem Bereich zu wenig Nachwuchs gibt. Unterstützen Sie diese Forderung?

Koenne: Ja, ich würde es aber „Natur und Technik“ nennen. Und zwar deshalb, weil die Verwissenschaftlichung des Unterrichts in der Unterstufe die Schwierigkeiten macht. Dieser Unterricht fühlt sich zu stark einzelnen Disziplinen verpflichtet und zu wenig den Fragen, die diese Wissenschaftsdisziplin beantwortet. Chemie ist ja nicht Selbstzweck, sondern gibt auf Fragen, die sich Menschen stellen, Antworten. Wenn wir eine wirkliche Fachdidaktik entwickeln würden, die nicht nur eine Abbildung der Universitätsfächer ist, dann könnten wahrscheinlich auch die Mädchen einen besseren Zugang finden. Mädchen haben einen kommunikativen Umgang mit Wissen. Sie wollen darüber reden – wenn wir ihnen da mit dem Formalismus der Disziplin drüberfahren, dann schalten sie uns ab.

STANDARD: Soll jede/r, die/der sich berufen fühlt, auch Lehrer werden können – oder soll die Regulierung bei der Aufnahme in den Schulen stattfinden?

Koenne: Zunächst einmal bin ich für ständige Rückmeldung und Information an Lernende und Studierende. Die Verantwortung der Lehrenden für künftige Lehrer ist viel größer, als sie das wahrnehmen. Sie hätten die Aufgabe zu sagen: „Achtung, da läuft etwas falsch, ich habe die Sorge, dass Sie nicht den richtigen Beruf anstreben.“ Hätten wir eine Feedback-Kultur, müssten sie den Mut haben zu sagen: „Aus meiner Sicht werden Sie Probleme haben bei Ihrer Berufswahl.“ Das wäre sehr hilfreich. Und ja, auch Schulen müssen – schon deshalb, weil sie sehr verschieden sind – die Möglichkeit zu einem Mitspracherecht bei der Ergänzung des Lehrkörpers bekommen.

STANDARD: Mitsprache oder alleinige Personalhoheit?

Koenne: Mein Modell wäre so, dass die Schule einen Dreiervorschlag bekommt, aus dem die Direktion und der Schulgemeinschaftsausschuss wählen und wo der Landes- oder Stadtschulrat, wenn jemand lange erstgereiht ist und nicht drankommt, daraus auch das Alarmsignal zieht und sagt: „Hoppla, was ist denn mit dir, warum wollen die dich nicht?“

STANDARD: Sie haben ein Gymnasium geleitet. Würde es Ihnen Leid tun, wenn die Unterstufe dieses Gymnasiums mittelfristig verschwinden würde – Stichwort Gesamtschule?

Koenne: Wir kommen um die Gesamtschule in der einen oder anderen Weise nicht herum. Eine Fusion der Hauptschule mit der Volksschule wäre der bessere Schritt, weil die beiden Systeme einander viel näher und verträglicher sind. Es wäre gut, die Kinder sechs Jahre in einer gemeinsamen Schule zu lassen, in der die Hauptschullehrer mit unterrichten. Anschließend sollten die Schülerinnen und Schüler weitere drei Jahre gemeinsam in das, was heute die AHS ist, gehen – bis zum Ende der Schulpflicht – und dort dann von AHS-Lehrern unterrichtet werden. Mit 15 sollen sie die Entscheidung treffen: „Mache ich die AHS-Matura, gehe ich in eine BHS oder beginne ich eine Lehre?“ Es ist eine Antwort auf die Probleme, die wir tatsächlich in den Schulen haben. Unsere Schülerinnen und Schüler sind verschiedener, als sie es früher waren. Das hat gar nichts mit Ausländern zu tun. Es hat damit zu tun, dass sie mutiger ihre Unterschiedlichkeit in die Schule bringen. Früher haben sie ihre Individualiät eher versteckt. Daher waren sie gleicher. Aber die Schule geht noch immer vom Dogma der homogenen Lerngruppen aus.

STANDARD: Was hieße das als Modell für die Lehrergruppen?

Koenne: Es wäre für die Anstellungssituation problemlos. Die Hauptschullehrer hätten dann halt nicht vier Jahre die Hälfte der Schüler, sondern zwei Jahre alle, und dann die AHS-Lehrer alle. Die Standorte würden erhalten bleiben, die Ausbildungskonzepte auch. Mit den Pädagogischen Hochschulen gibt es ja weiterhin keine gleiche Ausbildung für alle Lehrer. Das Zusammenführen der AHS mit der Hauptschule wäre eine schwere Systemverletzung. Auf die reagiert, gar nicht ideologisch gesprochen, das System sicher so empfindlich, dass das der falsche Weg wäre.

STANDARD: Wie wird/muss sich die Aufgabe der Lehrer ändern?

Koenne: Wir haben noch an die Wände der Klos geschrieben: „Kinder lernt nicht, sonst müsst ihr später arbeiten.“ Das ist vorbei. Diesen sicheren Arbeitsplatz fürs Leben gibt’s nicht mehr. Auch wer lebenslänglich lernt, wird Mitspieler im Verdrängungswettbewerb um bezahlte Arbeit. Was heißt das für die Schule? Wir müssen die nächste Generation darauf vorbereiten, eine Identität jenseits der bezahlten Arbeit zu entwickeln. Das ist die große Chance für die Schule, dass wir nicht bloß nach Nützlichkeit ausbilden. Lehrer werden viel mehr Vorbilder. Sie wirken nicht mehr unmittelbar über ihr Fach, sie wirken mittelbar als Orientierungshilfe. Was ist eigentlich ein geglücktes Leben? Sie sind exemplarische Intellektuelle. Beispiele, an denen man sieht, was in dieser Zeit, in dieser Welt, in diesem Leben wichtig ist.

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Zur Person
Christa Koenne (64), promovierte Chemikerin mit Lehramt Physik, Chemie, Mathematik, leitet die Pisa-Science-Gruppe Österreich und das Projekt „Prüfungskultur“ an der Uni Klagenfurt. Bis 2006 Direktorin der AHS Geringergasse, Wien XI, jetzt am Kompetenzzentrum für Didaktik der Chemie an der Uni Wien. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.9.2007)