Was passiert, wenn einem das eigene Kind abhanden gekommen ist: Katja Jung und Stephan Lohse in Gerhild Steinbuchs "schlafengehn" im neuen Schauspielhaus.

Foto: Schauspielhaus/Pelekanos
In seltsamen Textwelten agiert das vorderhand zugkräftigste Ensemble der Stadt!
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Wien - Das freitägige Premierendoppel des Wiener Schauspielhauses - es war das zweite binnen zweier Tage - gleicht einem erneuten Leseversuch im selben gemischten Satz. "Holt mich hier heraus!", flüsterwitzeln die Dramenversuche von Gerhild Steinbuch (schlafengehn) und Johannes Schrettle (wie ein leben zieht mein koffer an mir vorüber). Es scheint ganz so, als ob sich Andreas Becks neue Porzellangassenmannschaft auch durch die Errichtung sperrigster Textzäune von keiner Selbstbezauberung abhalten lässt.

Stücke wie die traumverlorene Familienmeditation Steinbuchs (Uraufführung 2006 in Essen) gleichen dem Versuch, über die furchtbarsten Zumutungen erzwungenen Zusammenlebens mit triumphaler Geste einen Mantel der Spracharmut zu legen.

Denn während die gleißend helle Bühne von Skateboard-Halfpipes und diversen Bodenluken strukturiert wird, steht mit dem trotzigsten Ausdruck kindlicher Verlorenheit ein Bübchen namens Elm (Vincent Glander) in einem durchsichtigen Kubus gefangen (Bühne: Bernhard Kleber). Ein Missbrauchstäter mit Latexmaske und Klebebandprothese (Steffen Höld) hält ihn wie Kaspar Hauser im Eigenheim fest. Er redet seinem Zögling sogar ein, dass dieser ein Kind von ihm bekomme.

Und während dies alles mit schönster Selbstverständlichkeit passiert und visuell von allen Seiten einsehbar bleibt - und von allen Beteiligten famos gespielt wird! -, kauern die mutmaßlichen Eltern des Buben neben ihren Bodenluken und mümmeln bedeutungsschwere Sätze, die wie Mehlwolken über diese weiße Höllenanstalt ziehen.

Mama rührt als Conny-Froboess-Kopie (Katja Jung) in der eigenen Handtasche den Teig zum Tortenbacken an, während der Herr Papa (Stephan Lohse) im Dozentenwollschal verzweifelte Versuche der Selbstrechtfertigung auf Notizpapier niederlegt.

Wer hat den armen Elm eigentlich aus dieser familiären Obhut entlassen? Sind die werten Erziehungsberechtigten bloß ein bisschen meschugge, oder liegt in dem umständlich wortkargen Text irgendein unnennbares Geheimnis begraben, das Steinbuch unter keinen Umständen hervorkratzen will?

Sensibilitätskitsch

Das Aufsprengen familiärer Binnenstrukturen im Zusammenschluss mit dem fatalen Missbrauchsthema: Diese vermeintlich sinnfällige Kombination erzeugt morbidesten Sensibilitätskitsch. Es ist der Regie (Barbara-David Brüesch) sowie den beteiligten Schauspielern gar nicht hoch genug anzurechnen, dass sie das Stück zwar hochprofessionell "realisieren", es sich aber gleichzeitig mit sachlichen Fingern vom Leib halten.

Auch Schrettles koffer-Drama erzählt vom Festkleben an unlebbaren Verhältnissen. Wie überhaupt an unseren Jungdramatikern beherzte Soziologie-Seminarleiter verloren gegangen sind. Die Begriffsarsenale von Niklas Luhmann und Ulrich Beck werden mustergültig geplündert. Schrettle verweist die Lebensentwürfe verschiedener geringfügig Beschäftigter in ein Arbeits-Freizeitstudio. In dieses schneit ein properes blondes Putzmädel namens Piroschka (Nicola Kirsch) herein, um nach erfolgter Ausbeutung als Kofferfracht auf einem Aussteigerbauernhof zu landen.

Der ursprüngliche Regisseur muss w. o. gegeben haben. Denn in kollektiver Verantwortung toben die Schauspieler herum, als wollten sie sich für Pollesch und Castorf gleichzeitig bewerben. Improvisieren unter Zuhilfenahme diverser Textblätter und machen herrlich-alberne Comedy. Ein Ausweichmanöver? Darf zum Saisonstart alles sein. Zu bewundern gibt es vorderhand das zugkräftigste Ensemble der Stadt. Und die Stücke - werden sich finden. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 26.11.2007)