Welche Mächte blähen das römische Schicksals-Segel? Titus Andronicus (Wolfram Koch) erfährt eine Reihe von schmerzlichen Lektionen.

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"Armes", großes, gestisches Theater.

Heiner Müllers Collage "Anatomie Titus Fall of Rome" (1984) ist eigentlich ein Stückcontainer. Der Text, ein Konvolut entsetzlicher Verbrechen aus der römischen Kaiserzeit, enthält nicht nur die komplette Übersetzung von Shakespeares Titus Andronicus. Müller, der kommentierende Schreckensbote, winkt mit Armstümpfen, mit der ausgerissenen Zunge einer geschändeten Römerin wie im Angsttraum in eine heillose Gegenwart herüber. Von welcher Gegenwart sprechen wir? Der DDR-Weltdramatiker Heiner Müller (1929–1995), der in den Dramaturgiebüros allmählich in Vergessenheit zu geraten droht, war ein Dramenfrächter. Die Shakespeare-Dichtung hat der Transporteur Müller mit lauter Denktafeln umstellt. Als hätte er das blutige Paket mit Riesenlettern beschriften wollen: "EIN NEUER SIEG VERWÜSTET ROM DIE HAUPTSTADT ..." hebt diese Chronik einer römischen Familienvernichtung an.

Und weil man, zwölf Jahre nach seinem Tod, mit Müller meist nichts Besseres anzufangen weiß, als ihn den Deutungskünsten randständiger Gelehrter zu überlassen, muss man wieder bei null beginnen. So wie Regisseur Dimiter Gotscheff (ein Freund des Dichters) im Deutschen Theater Berlin: Er stellt acht Schauspieler in die Tiefe des Raums, vor einen schwarzen Horizont, der von einem riesigen goldenen Segeltuch überwölbt wird (Bühne: Mark Lammert).

Wohlstandsrömer

Ein Grüppchen Wohlstandsrömer stößt die Müller-Blankverse ruckweise hervor, aber eher so, als presste man Luft aus einem alten Reifen. Zugleich rückt der Chor mit dem Erreichen jeder Textstufe ein paar Schritte vor.

Wir erfahren: Titus (Wolfram Koch) schleppt die besiegte Gotenkönigin Tamora (Almut Zilcher) im Triumph nach Rom. Das Staatswesen befindet sich in der heillosesten Verwirrung, weil zwei Thronanwärter obendrein um die Hand von Titus’ Tochter Lavinia (Jule Böwe im Tutu) streiten. Eingebettet in den Clan der Söhne, blökt der verdiente Feldherr Titus immerzu dazwischen (kurze Zeit läuft er sogar Gefahr, selbst Kaiser zu werden). Um die anwesenden Damen wird wüst gestritten. "Der Rest", heißt es bei Müller zynisch, "ist Politik."

Und die hat es in sich. Denn die Gotin Tamora – von Zilcher als reife Multikulti-Schlange mit rabenschwarzem Haar an die Rampe gekleckert – hat ihren Geliebten Aaron (Samuel Finzi) im Tross dabei. Sie ergattert den neuen Kaiser (Margit Bendokat). Andererseits lässt sie sich ungehemmt vom "Neger" Aaron sexuell verwöhnen. Aaron ist das geheime Kraftzentrum des Stücks: Er ist absolut böse.

Der böse Asylant

Er besäße eigentlich keinen Grund dazu: Roms Establishment akzeptiert die Anwesenheit des unfreiwilligen Asylwerbers geradezu leichtfertig. Dieser Clown des Schmerzes hüpft in Finzis schwarzer Pullovergestalt wie ein Orang- Utan zwischen den Römern herum. "Die Nacht des Negers" enthält den wenig segensvollen Gruß der Dritten Welt an die Erste. Das gelbe Segeltuch der schöneren Hoffnung liegt recht bald zerknüllt auf dem Boden; es wäre die Toga gewesen, mit der das alte Rom seine Tugendblößen bedeckt.

Müllers Kunst kann man nicht voraussetzen: Man muss sie aus dem Geist des Schmerzes neu erfinden. Gotscheff leistet sogar noch mehr: Er häutet die Römer, also uns alle, wie Zwiebeln. Sein herrlich nüchterner Spaßmacher Aaron ist das Werkzeug dazu. Er befreit das Theater (im Verlauf eines großartigen Abends immer überzeugender) von allen Zumutungen des pflichtschuldigen Illusionismus.

Titus, dem die Tochter vergewaltigt und verstümmelt wird, erlebt das Versinken einer ganzen Zivilisation als würgenden Angsttraum – zunächst die hohen Herrschaften wie ein Oberkellner im Frack umtänzelnd. Müller sinnt in seinen Zwischentexten darüber nach, ob nicht die Menschen bloß Maschinen seien. Titus selbst ist nur noch Haut und Knochen.

Er schlägt sich selbst die Hand ab, weil er glaubt, damit die Söhne vor dem Henker zu bewahren. In Berlin genügt es, die Hand wie einen welken Zweig nach innen zu klappen, um eine Amputation anzudeuten. "Lernen durch Verlust", lautet die bittere, von Müller in den zerfahrenen 80er-Jahren allen Bewohnern der Wohlstandszonen grinsend verschriebene Medizin.

Von Gotscheffs atemberaubendem Theater lernen hieße, dem Kern der liberalen Nächstenliebe zu misstrauen. Es hieße, Phrasen – auch solche des Theaters – energisch zurückzuweisen. Zu kapieren, dass Besserverdiener wie Titus-Bruder Markus (Sebastian Blomberg) sich an dem dröhnenden Müller-Deutsch verschlucken müssen. Jene Szenen ausgenommen, wo der "Spaß" die Sachlichkeit des Bösen zu behindern droht, zeigt die Berliner Inszenierung zweierlei: Wir müssen uns viel öfter von Müller die Leviten lesen lassen! Und wir müssen stark genug sein, um seine Botschaft zu ertragen. (Ronald Pohl aus Berlin / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.11.2007)