Siebecks "Kochbuch der verpönten Küche" (Edition Braus 2008, € 41,10) soll die Angst vor Hirn und Co nehmen.

Foto: Edition Braus
Foto: Heribert Corn

Der Doyen der deutschsprachigen Restaurantkritik ("Die Zeit") liebt die Wiener Küche so lautstark, dass er jetzt mit dem Goldenen Ehrenzeichen der Stadt Wien ausgezeichnet wurde.

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DER STANDARD: Sie wurden unlängst für Ihre Verdienste um die Wiener Küche geehrt. Wie lautet Ihre Diagnose zu deren aktueller Verfassung?

Wolfram Siebeck: Die Wiener Küche hat wie alle Regionalküchen in Österreich die sympathische Eigenschaft, sich traditionell und bodenständig zu äußern. Auf der anderen Seite aber ist man sich hier durchaus der Moderne bewusst. So wird zumindest überall versucht, Fisch und Fleisch auf den Punkt zu garen. Dass das nicht immer so klappt, liegt am Personalmangel, meistens. Es ist alles eigentlich so, wie der brave Bürger sich eine Küche vorstellt, die er zu seiner Lieblingsküche erklären kann. Sogar wenn er gleichzeitig über die Hochküche Bescheid weiß und überhaupt informiert ist, was überall sonst gekocht und gegessen und diskutiert wird.

DER STANDARD: Im Vorwort Ihres neuen Kochbuchs berichten Sie von wohlmeinenden Warnungen, dass Leser sich bereits in den Buchhandlungen erbrechen werden müssten, wenn sie das Buch zum ersten Mal in die Hand nehmen. Gibt es dazu Berichte?

Siebeck: (lacht) Natürlich nicht! Diese Vorstellung, dass bereits das Abbild einer Kalbszunge zum Erbrechen führen kann, ist bloß kabarettistisch - hoffentlich.

DER STANDARD: Es enthält tatsächlich keine Rezeptabbildungen, sondern Fotos von Leber, Hirn, Zunge oder Kalbskopf im Rohzustand. Spielen Sie gern den Bürgerschreck?

Siebeck: Aber nein. Es hat sich so ergeben, dass die Bürger sich vor dem erschrecken, was ich manchmal von mir gebe. Das liegt nicht an mir, das liegt an den Bürgern, die sind halt ein bissl rückständig. Was soll am Foto eines Kalbshirns eklig sein? Jeder Supermarkt wirbt mit Fleischfotos.

DER STANDARD: Warum sind Innereien, Pferdefleisch oder Froschschenkel verpönt?

Siebeck: Das ist so eine Melange von Tierschutz, Naturschutz und anderen Schutzzwängen, die viel mit Angst zu tun haben. Das ganze Buch basiert auf der furchtbaren Tatsache, dass kein Mensch mehr Kontakt hat zu den natürlichen Prozessen des Tötens, des Jagens und des Essens. Dabei ist das absolut wichtig, wenn man den Kontakt zu unserer Herkunft und unserer Kultur behalten will. Es wird ja schon spekuliert, dass viele Kinder nicht mehr wissen, wo die Milch herkommt. Die würden sich womöglich grausen, wenn sie erfahren, dass Milch aus dem Euter einer Kuh strömt, bevor sie in Pappkartons gepackt wird.

DER STANDARD: Die Abneigung gegen Innereien ist also ein Luxus, den sich die Menschen erst seit kurzem leisten - seit Fleischvieh zur billigen, industrialisierten Ware geworden ist?

Siebeck: Natürlich! Als ich Kind war, wurden zu Hause mindestens einmal die Woche Schweinenieren sauer aufgetischt. Dabei waren wir ein bürgerlicher Haushalt. Ich mochte das ganz gerne, wie überhaupt alles - außer Lebertran.

DER STANDARD: Wie verhält es sich mit dem Essen und der Moral? Gibt es eine moralische Verpflichtung, die Tiere, die wir schlachten auch ganz und gar zu verspeisen?

Siebeck: Die Tendenz, nur das elende Filet rauszuschneiden und den Rest sonstwohin zu schicken, ist schlimm. Es ist viel ehrlicher, moralischer, wenn man das Tier von vorn bis hinten, vom Schwanz bis zum Ohr aufisst. Wir leisten uns den furchtbaren Luxus der Verschwendung. Was wir nicht wollen, wird weggeschmissen, das kriegt die Katz, der Hund, das kriegt die Tierfutterfabrik.

DER STANDARD: Wie erklären Sie, dass Ihre geliebte französische Küche in Österreich ein besonders schlechtes Image hat - und zwar im Unterschied zur italienischen?

Siebeck: Das ist mir neu. Aber auch in Berlin gibt es wohl mehr als 100 Italiener, davon sind 70 die prominentesten Restaurants der Stadt (lacht) - und vielleicht 25, die der französischen Küche verpflichtet sind. Das liegt natürlich an der mangelnden Emanzipation der Esser. Denn die italienische Küche ist eine eingängige, fast infantile Küche.

DER STANDARD: Warum?

Siebeck: Nudeln zu essen, die man nicht mal kaut, sondern einfach runterflutschen lässt - das ist doch Babynahrung! Ich bin ja nicht der Erste, der das sagt. Marinetti, der italienische Futurist, hat schon in den 1920er-Jahren gesagt, die Nudelmanie trüge zum Untergang des italienischen Volkes bei. Ich würde nicht so weit gehen. Aber das Charakteristische an der italienischen Küche ist doch das Statische: Ja nix verändern, alles genau so machen, wie es schon die Nonna gemacht hat; während die französische Küche absolut dynamisch ist und sich alle zehn Jahre neuerfindet, wie in der Mode. Und das macht sie für Esser wie mich hochinteressant!

DER STANDARD: Präsident Sarkozy aber möchte sie zum Weltkulturerbe erklären lassen. Ein Zeichen ihres nahenden Endes?

Siebeck: Ach was. Der französischen Kochkunst und den Kochkünstlern geht es bestens. Das ist nur wieder diese Manie, alles unter Schutz stellen zu wollen.

DER STANDARD: Gibt es eine Verantwortung des Feinschmeckers angesichts von sechs Milliarden Erdenbürgern, die alle mehr Fleisch und Fisch auf dem Teller haben wollen?

Siebeck: Mindestens so wichtig ist denen doch ein neues Auto! Wenn's nach mir geht, sollen sie ruhig alle ein Kilo Fleisch am Tag essen, wenn sie dafür nicht so viel Auto fahren.

DER STANDARD: In den vergangenen Jahrzehnten ist Essen immer billiger geworden. Manche, auch Sie, meinten: viel zu billig. Jetzt wird es plötzlich teurer. Gut oder schlecht?

Siebeck: Wenn Sie in den letzten Jahren so wie ich nur in teuren Restaurants gegessen hätten, würden sie von der billigen Küche überhaupt nicht reden! (lacht) Aber natürlich ist es für die Wohlstandsgesellschaft eine ziemliche Katastrophe, dass es da eine Milliarde Chinesen gibt, denen es auch plötzlich viel besser gehen soll. Doch eines ist klar: Es wird immer eine Elite geben, die besser leben wird und das auch deutlich machen wird. Das war in der Steinzeit schon so und so wird es auch bleiben. (Severin Corti/Der Standard/rondo/30/05/2008)