Christian Schachinger
Wien - Möglicherweise gibt es ja schönere Hobbys, als sich regelmäßig Tätowierungen oder Ringe in Körpergegenden verpassen zu lassen, die man jetzt gar nicht so genau erklärt bekommen möchte, weil an und für sich die freie Sicht auf die jugendfreien Zonen ohnehin zu viel des Guten ist. Nicht dass jetzt kulturkritisch mehr als nötig im Frühtau zu Berge gehumpt oder gedumpt werden wird. Schließlich reicht hier auch die gute alte Vulgärpsychologie: Denn jener seit den 80er-Jahren heraufziehende "Körperkult", wie er hier einmal mehr während der Freak-Show Modern Primitives im Wiener Prater vorgeführt wird, hat eventuell schon sehr viel damit zu tun, dass man sich in unserer Gesellschaft offensichtlich so wenig spürt, dass man sich als Ausgleich zu fehlenden Gefühlen freiwillig Torturen unterzieht, die innere Wärme zumindest über Schmerzen erzeugen sollen. Fragen Sie Ihren nächsten Sadomaso-Berater! Prince of Pain Schließlich deuten wohl auch das im Vergleich zu Nadel und rostfreiem Stahl eventuell zart unterhaltsamere und gesellschaftlich längst bis hinein in den Mainstream akzeptierte Aufkommen von Popoklatsch-Sexpraktiken, Dominanz- und Unterwerfungsspielchen im Allgemeinen (Bestrafe mich, Herrin, ich war ein böser Junge!) oder diverse, gerade auch im Freizeitbereich unternommene Anhaltepraktiken wie Bondage darauf hin, dass es uns allen zwar noch halbwegs gut geht, aber eigentlich gar nicht mehr. Was müssen wir alle bloß für Zwänge haben, wenn heute schon die Teenie-Stars in jedem zweiten Musikvideo in Leder- und Lack-Korsagen herumhüpfen! Weil aber andererseits alle Wege nach Rom führen, und sei es der durch den Rahmen eines Tennisschlägers, wie man es hier bei Modern Primitives gleich von einem Gummimann mit der Spezialität Armauskugeln sehen wird, schließen wir am Ende des ersten, zivilisationskritischen und kulturpessimistischen Teils des Artikels wie folgt: Ein Prinz-Albert-Ring muss nicht zwangsläufig in der eigenen Hose scheuern! Bescheuerter schon, wenn Menschen, die zu feige sind, selbst "Aua!" zu sagen, anderen für 590 Schilling Abendkassa dabei zusehen. Von wegen: etwas dabei spüren wollen, wenn sich andere darum bemühen, sich zu spüren. Wir lassen leben. Und: Selbst zur Vorstellung mitgebrachte Tätowierungen und Nabelringe gelten nicht. Die tragen heutzutage selbst die Kindergartentanten. Ende des ersten Teils. Pause. Ende der Pause, Beginn des zweiten Teils: Mein Gott, ist das alles langweilig hier! Ein Mann, der sich durch den Rahmen eines Tennisschlägers windet. Ein Liliputaner, auf dessen Brust eine Betonplatte zerschlagen wird. Dann: Eine Frau, die Flammen nicht nur mit dem Mund schluckt, wenn Sie wissen, was ich meine. Später wird auch noch ein drastisch und etwas glücklos tätowierter "König des Schmerzes" seine Wangen durchstechen und sich Nägel in die Nasenlöcher schlagen. Gähn. Irgendwo verschwinden dann abwechselnd Schwert und Neonröhre in einer Gurgel oder werden mit den Brustringen Gewichte gestemmt. Das Fachpublikum ächzt. Ach, wenn uns nur gruseln könnt'! Weil, das können wir alles selber! Zumindest haben wir das im Internet schon besser gesehen. Wie wäre es zum Beispiel einmal mit einem Baumstamm durch die Nase? Höher, schneller, weiter! Allerdings: Die eine andere Sache mit der Nase war schon nicht schlecht. Was aber, wenn sich das "Enigma", treuen Sehern der TV-Serie Akte X als Ganzkörper-Puzzle mit Teufelshörner-Implantaten aus der Folge Der Zirkus bekannt, ein Kondom schnappt, zu einer Kugel formt und diese über den Rachen in die Nase befördert, wo die Badehaube für den kleinen Willi dann als lustiger Luftballon herauskommt? Wenn man den Versuch, dies zu Hause nachzustellen, überleben würde, könnte man damit sicher bei zahllosen Polterabenden reüssieren. Prince Albert Eventuell der Höhepunkt des Abends, aber da kann man jetzt darüber streiten: der 69-jährige Brite John Lynch, der sich vor zwei Jahren in seiner Rente einen Lebenstraum zu erfüllen begann. Er will in das Buch der Rekorde, die die Welt nicht braucht, als der Mann eingehen, der die meisten Piercings trägt. Nicht nur, dass er sich den bezeichnenden Künstlernamen Prince Albert zugelegt hat. Der geneigte Leser erinnert sich an eine Textstelle weiter oben. Auch sonst ist der Mann so ziemlich überall gut bestückt. Über 300 Teile soll er mittlerweile durch seinen Körper getrieben haben. John Lynch war früher Bankangestellter. Was zumindest die eingangs unternommenen Vermutungen nicht ganz widerlegt. Übrigens bin ich mir nicht sehr sicher, ob es seitens des Veranstalters notwendig ist, als Security-Personal Frankfurter Skinheads nach Wien zu bringen. Glatzen haben wir leider selbst genug. Nicht nur auf Autoreifen. Libro Music Hall, 1020 Wien.
Fr., 6. 10. und Sa., 7. 10.,
und vom 10. bis 13. 10.. 20 Uhr
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. 10. 2000)