Bühne
Der Text vom Text, der lügt
Marlene Streeruwitz hielt die Eröffnungsrede für den "steirischen herbst"
Graz - Von der Enteignung des Subjekts durch die Sprache handelte die gestern in der Grazer Waagner-Biró-Halle gehaltene
Rede von Marlene Streeruwitz zur Eröffnung des steirischen herbstes
: als "Predigt" vom "Haben. Sein. Und werden." Die
Dramatikerin, deren Stück
Sapporo.
am 26. Oktober uraufgeführt wird, bemühte das drastische Bild von der Anästhesierung
hirntoter Organspender: "Weil man nicht wüsste, was ein Mensch am Ende noch spüren oder wissen könne."
Doch kämen sich die Menschen auf diese Weise eben selbst abhanden. So auch im Politischen: Aus den Texten der zur
Rede Ermächtigten fielen sie als Opfer heraus, geprellt um das natürliche Recht ihrer Nennung: "So wie der absystematisierte
Postbedienstete meines Postamts nach der Benennung als Absystematisierter nicht mehr im Text vorkommt."
Jeder "politische Text mit seinen Methoden der semantischen Verschiebung, der Auslassung, der Umbenennung lügt". Und
die Lüge der Texte würde kenntlich erst in ihrer Umsetzung: als politisches, daher zu verwirklichendes Programm, als
Heilsversprechen - "und in dieser Transformation geschieht die Lüge."
"In unserer Kultur ist diese Lüge systemischer als anderswo", stellt Streeruwitz säuerlich fest. Die österreichische
Verlautbarungskultur sieht sie zum Beispiel dem Ritual des Dankgottesdienstes verpflichtet, allerdings "fragmentiert" - wie
überhaupt die Praktiken der künstlerischen Avantgarde nur herangezogen würden, um sie gegen ihre ursprünglichen humanen
Absichten zu verkehren.
Emanzipation und andere fortschrittliche Bewegungen kämen im öffentlichen Diskurs erst gar nicht mehr vor. In Streeruwitz'
Lesart der kulturellen "Schrift" tun sich hingegen "Leerstellen" auf. Das Wuchern der Symbole ersetzt, was andernorts
verschwiegen wird. Und der hierorts verlautbarte Text folge der Dramaturgie eines "Sissi"-Films.
"Wir haben keine Tradition des säkularen Textes", kommentiert die Autorin trocken. Und deutet den Bewegungsmodus der
österreichischen Wirklichkeit als bloßes "Weitermachen" - während der politische Text von der Unterhaltung, dem Spott und
der Ausgrenzung durchsäuert wird. Die Hoffnung in die Kunst sei da nur utopisch: Die "andere" Sprache, welche von den
Künstlern vorweggenommen würde, könnten wir nur in ihrer "Nochnichtmöglichkeit ahnen". (poh, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7. 10. 2000).