Graz - Die Vorgaben sind klar. Es geht um nichts Geringeres als die "Rettung der Welt". Dies kann nur durch die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft bewerkstelligt werden. "Classless society" titelt auch das schon rein optisch merkwürdig antiquiert anmutende Computerspiel, das auf einem Videoscreen im Bühnenhintergrund gestartet wird, nachdem Andreas Ammers (Text) und FM Einheits (Musik) Marx Engels Werke anlässlich des steirischen herbstes im Grazer Orpheum mit einer pathetisch nachgestellten Revolutionsouvertüre eingeleitet wurden. Im Computerspiel, vom britischen Freistilsänger Phil Minton als vokale Tour de Force erläuternd begleitet, muss man als Karl Marx mit einem zeitlichen Begrenzungsrahmen von 65 Jahren nicht nur erst seine Hausaufgaben erledigen: "Press ,M' to write your manifesto, then press ,Quit' or ,Return'." Es geht auch bald um die zu überwindende Last von "Geburt, Arbeit, Kapital und Tod". Ein als Sprechgesang endlos wiederholter Singsang, zu dem sich "Karl Marx" im Kokon langsam auf die Bühne, in die Welt schleppt, um sich aus diesem zu schälen - und gleich einmal das Zeitliche zu segnen. Lenin in der Gestalt von Engels (Günter Rüger): "Nachmittags um ein Viertel vor drei hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken." Die "virtuelle Welt" eines Computerspiels kennt trotz aller beigefügter Verkaufsattribute wie jenem der "virtuellen Realität" keine Zeitlichkeit. Apropos Zeitlichkeit: Der "echte" Marx trug beziehungsweise - Ironie der Sprache! - trägt einen Bart. Jennifer Minetti als Simulation von "Dr. Karl Marx" muss nach diesem erst rufen. Sie bekommt eine aus der griechischen Tragödie bekannte Maske und rezitiert das Kommunistische Manifest. Verfremdungseffekt? Entfremdung? Das eigentliche Sprechen ist hier längst nur mehr im Uneigentlichen möglich. Ohne Maske wird eitel das eigene Schaffen gewürdigt, mit Maske wird deklamiert: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Ja, das war gut: gut gedacht, gut geschrieben, gut gedruckt . . . Da verneigen sich Jahrtausende vor mir, von wegen Gott, Geld, Geilheit. Nein, der Mensch!" Im Hintergrund dröhnt die Industrial-Musik des von den Einstürzenden Neubauten bekannten Extremisten FM Einheit. Gegen Ende werden Filmdokumente aus der DDR zugespielt, inklusive deren Hymne: "Auferstanden aus Ruinen . . ." Ha! Jede Revolution kennt auch ihre Totengräber. Das statische Bühnen-/ Computerspiel endet mit der Bemerkung: "Sie haben nur 1989 [sic!] Punkte erreicht. Die Revolution ist gescheitert. Wenn Sie das Spiel wiederholen wollen, drücken Sie ,Repeat'." Wie heißt es gleich zu Beginn: "Vertraue nicht auf die Nachwelt!" (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. 11. 2000)