Mit "Was ihr wollt" übersiedelt er vom Zürcher Schauspiel nach Salzburg: Christoph Marthaler erprobt am Liebesverwirrspiel seine überaus große Kunstfertigkeit. Nur wo bleibt die Liebe?, fragt Ronald Pohl . Zürich - Wer fragt, wo Shakespeares so absonderlich schwüles Illyrien gelegen sein könnte, diese mysteriöse Klippe, an der jede sexuelle Identität in tausend glitzernde Spiegelscherben bricht, der kann in Zürich, im Schauspielhaus am Pfauen, gleich noch weiter fragen. Liegt Illyrien, das erotische Dampfschwitzbad, in dem Shakespeare nacheinander den verschmockten Herzog Orsino weich kocht, hierauf dessen Angebetete Olivia triebverwirrt, währenddessen aber seinen Botenjungen Cesario, hinter dessen androgyner Larve das Edelfräulein Viola schmachtet, identitätspolitisch missbraucht - liegt Illyrien nicht überall dort, wo man sich glücklich angekommen wähnt? Aber nie einen Fuß an Land kriegt? Ist es das: Was ihr wollt ? Die herzöglichen Füße stecken in Zürich in Pantoffeln. Die müden Glieder aber im bauchigen Rumpf eines Fährboots, und die Köpfe mindestens bis zum Hals im malzgebrannten Dunst unzähliger angebrochener Whiskeyflaschen, die Christoph Marthalers kongeniale Ausstatterin Anna Viebrock auf Korbtischen, aber auch in Hohldecks und in Sitztruhen zu Dutzenden versteckt hält. An Illyriens Klippe landet man nicht. Man säuft sich gemütsruhig in dieses Traumland hinüber, wie in ein vom Suff birnenweich gezeichnetes Dumpf-Dalmatien. Herzog Orsino (André Jung) lauscht dem bei Marthaler obligatorischen Chorsummen unwillig nach, als wollte er eine Horde Wespen aus seinem Kopf verscheuchen. Da purzelt die trinkende Reisegesellschaft aus den Sitzen und Matten zu Boden, als hätte das Meer die Verdämmernden jählings an einen unsichtbaren Felsen geschleudert. Wo ist der Hirsch? Irgendwann, die Lage an Deck scheint sich beruhigt zu haben, brabbelt Jung etwas von dem "Hirschen", den er zu jagen beabsichtige. Mehr arkadisches Land wird hier in drei Stunden der seligsten Zech-Singerei nicht gewonnen. Wohl aber die bedrückende Einsicht, dass auch der müdeste Kerl seinen Rauschkopf am Türpfosten anschlägt. Nur über die Verwundung der Herzen erzählt Marthaler nicht viel. Fette Männer drücken ihre dünnen Kumpane im Rausch papierplatt. Der gebirgshohe Wanst Sir Toby (Josef Ostendorf) zeigt im Verein mit Sir Bleichenwang (Oliver Mallison) eine behände Kunstfertigkeit im Maikäferabrollen. Der trompetende Rüpel Fabian (Lars Rudolph) verspürt wiederum eine Neigung zum Felgaufschwung, während der Narr (Graham F. Valentine) es dagegen vorzieht, seinen Schottenrock mit anderen zu teilen. Die Aufführung folgt der hüpfenden Logik des Flohzirkus. Nur hat man die gelehrigen Tiere vorher in eine Alkohollösung gesteckt. Die Salzburger Festspiele können sich auf eine besonders beschwipste Probe anzüglicher Gefühlsverwirrung freuen. Der Binnenländer Marthaler stürmt die Kommandobrücke seines Hoch-Geisterschiffes von ganz tief unten: vom Platz des Kantinenwirtes aus. Wer aber unentwegt säuft, kriegt keinen mehr hoch. Darum ist auch das Liebesgeschwätz des falschen Cesario (Judith Engel) ein misstönendes, rauchiges Vers-Zerbeißen. Die Mummenschanz-Szene mit "seinem" Auftraggeber, dem Herzog Orsino (Jung), ein Ausdruckstanz auf Knien, mit keuschem Verlegenheitsknöpfen am Hemd des feisten Hippie-Fürsten. Vielleicht hat Marthaler ein klitzekleines Problem mit den Freuden sexueller Ausschweifung. Mit den Wonnen der Frivolität, welche die Hirne ganz höllisch unter Dampf setzt, auch ohne Zuhilfenahme von Feuerwasser. Marthaler kann sein prächtiges Ensemble herrlich abschlaffen. Er lässt seine illyrischen Pappenheimer nassforschen und nachtwandeln. Aber er kann sie nicht kitzeln, kosen, sie nicht necken und karessieren. Flüchtet vor dem Nahkampf in den Alkdampf. Lässt die auseinander gerissenen Zwillinge Viola und Sebastian (Markus Wolff) an der Rampe die See-Jacken wechseln, womit sie auch die in der Brusttasche steckenden Brillengläser tauschen. Aber nichts wird dadurch neu, wird dadurch anders gesehen. So muss man eine getrennte Kantinenrechnung führen: ein Posten auf den eigenen Genuss, einer auf Kosten des Hauses! Noch immer ist das Schau- und Schaumtheater des nunmehrigen Zürcher Schauspielintendanten eine grandiose Stadttheater-Verweigerung. Aber seine stupende Kunstfertigkeit gehört auch einmal über die Klippen der Gefahr gestürzt. Sonst denkt man, Marthalers trotzige Freundlichkeit sei ein Fall von Unterleibsangst. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19. 2. 2001)