Berlin - Glorie des Abschieds. Triumphales Verschwinden: Strategie des Verschwindens. Oder: Wie macht man seine Abwesenheit auffällig? Der Kunsttheoretiker Bazon Brock steht an einem Tischchen im Foyer der Berliner Volksbühne, spricht über historische Umgänge mit Abschied und Scheitern und meint doch vor allem einen gegenwärtigen Mangel - in privaten wie auch künstlerischen und sozialen Belangen. Die meisten der jungen Leute, die er hier treffe, hätten offenkundig gar keine Ahnung mehr davon, was es bedeuten könnte, "einen Schlussstrich zu ziehen." Kaum jemand, so Brock, sei noch in der Lage, "sich selbst und das, was er tut, von einem unausweichlichen Endpunkt aus zu betrachten". Die Rede ist einmal mehr von einer Generation, in der alle irgendwie weitermachen, scheinbar ohne Konsequenzen. Sagt Brock, und dann referiert er heiter über Archive des Scheiterns, über Lebensspannen als Überzeugungsmaßstab oder über antike Zeiten, in denen ein Triumphzug noch Signal der Abrüstung und der Entmachtung eines mächtigen, siegreichen Feldherrn war. Was hat das nun wieder mit Liebe oder gar Kunst zu tun? Ein kleiner Koffer, den Bazon Brock mitgebracht hat, lehnt derweilen an der Wand und fällt kaum auf, weil hier kein Vortrag im eigentlichen Sinne gehalten wird. Brock führt an diesem Abend in der Volksbühne nur Einzelgespräche - mit Besuchern eines "Kongresses" zum Thema "Liebesqualen": Lovepangs , basierend auf einer Idee der österreichischen Konzeptkünstlerinnen Carmen Brucic und Jeannette Müller, versammelte am vergangenen Wochenende gleich 120 Experten, die etwas zu einer "Ausrufung der liebeskranken Gesellschaft in Berlin" beizutragen hatten. Sprechstunde Der Wiener Barsänger Louie Austen hielt eine Sprechstunde zur Kommunikation unter Männern ; Hannelore Elsner beschwor einen Phönix aus der Asche ; die Modeschöpferin Lisa D. stand für Fragen zur Kunst der Rache zur Verfügung: Tischchen an Tisch-chen reihte sich rund um den Hauptraum der Volksbühne - Prominente und Passanten, Ratgeber und Ratlose, Verliebte und Verrückte, jeweils in Gespräche über Trennungsschmerzen vertieft, ergaben eine eigentümliche Montage aus privaten und theoretischen Versuchen über die vermeintliche Schande, verlassen worden zu sein. Allzu leicht hätte dabei der Eindruck entstehen können, hier würde erst recht die Spaßkultur bedient und Bazon Brocks Beliebigkeitsbefund eher bebildert denn durch stringente Ideen konterkariert. In den Volksbühnensalons lärmten Konzerte, Getränke wurden verabreicht, Lovepangs- Sticker verteilt - und all das wurde eingeteilt in vier Schmerzphasen, zu denen sich die Besucher bekennen mussten: "Pain", "Rage", "Resent" und "Over". Auf der großen Bühne ereignete sich derweilen ein "Imaginärer Opernführer" von Christoph Schlingensief, für den zuerst auch "Enklaven", Einschübe von Alexander Kluge, angekündigt worden waren. Heiliger Ernst Jedoch aus Spaß wurde, wie so oft bei Schlingensief, heiliger Ernst. Aus der bisher zunehmend intensiven Zusammenarbeit mit Kluge wurde jäh, und sehr passend zum Veranstaltungsthema, Qual: Schon am Samstag erklärte man vonseiten der Volksbühne: "Die Abwesenheit von Alexander Kluge, der gestern fünf Minuten vor Start plötzlich mit schwerer Magen-Darm-Grippe die Bühne verließ, war für alle ein großer Schock. Diese schmerzliche Erfahrung mag zum Thema des Liebeskongresses gepasst haben und war deswegen wichtig für Schlingensief, Sophie Rois, Berhard Schütz und die anderen allein gelassenen Verehrer von Kluge, der heute Abend bereits nach München abgeflogen ist." Tatsache war: Kluge mochte sich ganz offenkundig nicht mit Schlingensiefs feuchtforsch improvisierendem Zugang zu musiktheatralischen Heiligtümern anfreunden - und gab damit dem Regisseur unfreiwillig die Chance, wirk-lich heiligen Ernst zu machen. Was ansonsten möglicherweise eine nette Portion Entertainment geworden wäre, wo etwa ein Pensionistenverein den Freiheitschor aus Nabucco singen darf, das kippte um in blutigen Kampf um Glaubwürdigkeit, ums Überleben. Schlingensief, des ernsthaft-kühlen Gegenpols Kluge beraubt, entwickelte phasenweise phänomenale Momente aus verzweifelnder Beschleunigung heraus: Wenn schon alles schiefgehen musste, dann sollten die Zuseher auch selbst spüren, wie weh das tut. Und während auf einer großen Videoleinwand Torpedos Landstriche verwüsteten, vertiefte sich der Theatermacher mit Darstellern in ein leises Spiel vor TV-Kameras, das mit wuchtigen Musikpassagen vortrefflich kommunizierte. Love hurts! Und Abschied ist oft heilsam, wenn man die Schwäche nicht überspielt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. 2. 2001)