Wien - Musik über Schuberts Winterreise, einen alten Cantus firmus und eine Tonbandkomposition Max Brands: Schon die ersten Programmpunkte des Hörgänge- Festivals warteten mit einer bunten Palette an Beispielen auf, wie sich im Bezug auf historisches Material aus der postmodernen Not eine Tugend machen ließ.

Die vom Freiburger Ensemble Recherche angeregten In Nomine-Kompositionen über die Antiphon Gloria tibi trinitas bewiesen u. a. in den Beiträgen von Hans Zender, Georg Friedrich Haas und Gösta Neuwirth, wie sekundär im Grunde das Ausgangsmaterial ist, so es von der Gestaltungskraft eines starken Individuums transzendiert wird.

Quasi mikrokosmische Miniaturen als vollgültige, hochindividuelle Aussagen

Quasi mikrokosmische Miniaturen wurden hier nicht nur als launige Nebenprodukte (wie im Falle des aus drei Schlagwerk-Klavierflageolett-Akkorden bestehenden Stücks Wolfgang Rihms) abgehandelt, sondern repräsentierten vollgültige, hochindividuelle Aussagen. Wolfram Schurigs Streichtrio Gravur, letzter Teil seines Tintoretto-Zyklus, verwies in der nuancierten Behandlung des modernistischen Vokabulars ungleich stärker auf seine eigene musikalische Sozialisation (Helmut Lachenmann), im expressiven Pathos - zudem auf die Tradition der Zweiten Wiener Schule. Der gemeinsame Background als Kompositionsschüler Michael Jarrells schien auch für die sieben Komponisten der Gruppe Gegenklang der Hintergrund zu sein, an dem es sich eigentlich abzuarbeiten galt.

So interessant die konzeptuelle Idee war (ausgehend von einem Stück Robert M. Wildlings diente jeweils ein Werk dem nächsten als Inspirationsvorlage) - Verbindungslinien waren keine hörbar. Dann Winterreise um Mitternacht: Bertl Mütter schien zu später Stunde eher seine eigene Adoleszenz im Kleinstadt-Milieu Steyrs, wo sich Schubert (1825) aufgehalten hat, aufzuarbeiten als den Liedzyklus abhandeln zu wollen.

Immerhin, trotz banaler Gesangseinlagen und anderer Halblustigkeiten schuf Mütter mit Stimme, Posaune, Euphonium und Zuspielungen Momente von fröstelnder Eindringlichkeit. Während der Lindenbaum verfremdet zugespielt und frei kontrapunktiert wurde, sah sich der Wegweiser zu einem konduktartigen Gerippe reduziert; die Grundstimmung des Leiermanns wurde mittels Zirkularatmung und multiphonem Posaunenspiel eindrucksvoll verstärkt.

Elektroniksounds Brands reizvoll, aber im Grunde konventionell überlagert

Auch 39 Jahre zeitlicher Abstand können mitunter Welten bedeuten: Dennoch erwies sich Max Brands Tonbandkomposition Astronauten (1962) nicht unbedingt als inspirativer Reibebaum. Während Christian Fennesz und Ikue Mori die Elektroniksounds Brands reizvoll, aber im Grunde konventionell mit aggressiveren Sounds überlagerten und das Trio Erdgas einzelne Sample-Partikel zu einer schlichten Groove-Collage ausarbeiteten, brachen die in Strahlenschutzanzügen und Strumpfmasken angetretenen Mannen von Fon gerade in der Negation der Vorlage wirkungsvoll deren Botschaft.

Kraftvolle Soundbahnen schichteten sich hier zu einem dichten, von komplexen Beat-Strukturen durchpulsten Geflecht übereinander, während in der Mitte des Raumes eine weiße Kugel Form gewann und - gleich einem Erdball, der in den Weltraum grüßt - höhnisch zu blinken begann. Es war der zweifellos zeitgemäßeste Entwurf zum primären Konzept-Gedanken dieses Festivals und dessen Palimpsest -Motto. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 3. 2001)