Rechtzeitig zu dessen 60. Geburtstag bedachte der junge, hoch begabte Regisseur Georg Staudacher einen Grazer Weltdramatiker mit einem wahren Uraufführungspräsent: Ronald Pohl über "Café Tamagotchi" in Erdberg - ein Fest des Trash! Wien - Früher gingen Wolfi-Bauer-Figuren, diese kleinen, dreisten Spießer aus Graz, auf große Entdeckungsreise: Vor-stadtcafé-Häferlgucker, die sich in Viersternehotels großsprecherisch einmieteten, um dort wahlweise die Zeit oder das Theater oder einander tot zu schlagen. Oder um sich van Goghs Plastikohren an die Köpfe zu kleben. Mit Ersterem landeten sie Teilerfolge - ihre Langeweile bereitete dem Zuschauer einen ernüchternden Totalspaß. Zweiteres misslang ihnen leidlich: Die Theater waren meist stärker als sie. Im dritten Falle meuchelten sie einander zumeist wacker; standen jedoch unversehrt wieder auf und gingen einander desto gründlicher auf die Nerven. Die Nerven sind das Kopfweh und das Ewige; immerhin das ließ sich bei Bauer schmerzhaft fröhlich erlernen. (Der liebe Gott war in diesen Stücken immer gerade auf Klausur!) Und irgendwann kam der "Wolfi" davon ab, seinen Zeitgenossen etwas vormachen zu wollen. Seine Figuren waren mit Bauers schwerem Fieberkopf großteils identisch geworden. Umgekehrt schienen diese Antihelden entschlossen, sich ihn und die wenigen Theater, die sich seine wahnhaft witzigen Stücke überhaupt noch einzuverleiben getrauten, selbst ausgedacht zu haben. Das schönste Kompliment also an einen großen Absurden, zeitgerecht zu dessen 60er, der im Rabenhof-Theater mit der viel zu späten Uraufführung von Café Tamagotchi wundermild gerührt gefeiert wurde: Er ist es selbst, der uns alle erfunden hat! (Immerhin ein kleiner Hinweis darauf, dass er, Wolfgang Bauer, möglicherweise doch der liebe Gott ist!) Wir Wolfi-Bauer-Figuren stecken in kleinen, eiförmigen Plastikbehältern, ohne es zu merken oder jedenfalls eine bestimmte Ahnung davon zu haben. Wir gehen allabendlich in dasselbe schmutzige Café. Stecken uns Batterien in die Hose und warten, bis uns ein Duracell -Hase das Energie-Punktekonto mit obszönen Mundtrommel-Geräuschen lippenfurzend anzeigt: "Olé, olé, olé, super Jackpot, olé, olé!" Ein Kellner (Silvio Szücs) mit offener Hosentüre und schmierfettiger Haarpracht empfängt uns wie alte Bekannte. Ein fabelhafter Zwangshandlungsreisender (Gottfried Neuner) sitzt Probe. Ein Berliner mit Zylinder (Wolfgang Rommerskirchen) redet aufgekratzten Unsinn. Ein Herr mit Hundekopf frisst Hände. Eine schöne, kurzsichtige Dame (Kathrin Beck) fällt über ihren eigenen Koffer. Steven Hawking (Hans Piesbergen) drückt sich aus dem Elektro-Rollstuhl hoch und beschreibt seine höchst unsichere Existenz als gefräßiges "schwarzes Loch": ein tadelloser Mundgymnastiker. Willkommen im Café Tamagotchi ! Und wenn es der Herr Bauer denn doch nicht zum Schöpfer gebracht haben sollte, so hat er einen jungen Statthalter auf Theatererden ungewollt eingesetzt: Regisseur Georg Staudacher, der Bauers schäbig schematisches, schemenhaft verhuschtes Spätwerk als brachialen Turbo-Kraftschwank spielen lässt. Aber mit was für einem Formsinn! Welche Pracht: ein Doppel-Jackpot. Denn Bauers Stück erzählt ein und dasselbe mindestens auf zwei Arten, zweimal. Zuerst mit Tamagotchi-Gespenstern, die uns Menschen fabelhaft ähnlich sehen; hierauf mit leibhaftigen, schweigsamen Hubertusmantelträgern, mit deren sachlichem Status es aber auch nicht so sehr weit her sein dürfte. Herr Bauer spielt irgend ein fremdes, schwer fertiges, frevelhaftes Fantasie-Roulette mit Menschen; aber er enthält uns die Kenntnis der Regeln eisern schweigsam vor. Nur eines gilt: Alles geht! Aber das muss man erst können. Und der Rabenhof kann es. Intendant Karl Welunschek hat es so gewollt; und die Dramaturgien, welche sich über den vorsätzlich albernen Stoff nicht drübergetraut haben, sehen jetzt mit einem Mal furchtbar alt aus. Das Ewige ist der Kopfschmerz: Auf Wolfgang Bauers dramatisch dröhnenden Charakterschädel kann man vergnügliche Stücke bauen. Unentwegt schließt er die Figuren und deren "Handlungen" kurz und klein. Er räubert und kaspert. Existenzphilosophen werden kleine Fetzchen vom Wittgenstein entdecken und herausstellen: Partikel von Meister Eckhart, Witzchen von Sartre. Der Meister wurde im Anschluss an diese denkwürdige Uraufführung mit einer Torte standesgemäß gefeiert. Er selbst verriet, glücklich 60 geworden, im Schutz der tiefen Nacht: Er hätte es, bei allem Wohlwollen für Staudacher und Bühnenbildner Günter Lickel, doch anders inszeniert! "Realistischer", denn: "A Frühstück im Café - do g'hörn do Buttersemmerln auf'n Tisch g'stöd!" Bauer muss es sich gefallen lassen: Seine Schöpfung ist mindestens so klug wie er. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19. 3. 2001)